Kultur, Erlebnis und Vielfalt: Neues aus Chemnitz: Was geschah wirklich bei der umstrittenen Verfolgungsszene?

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Wir leben in einer bunten Welt, in der wir jeden Tag Neues entdecken und erleben. Wir begegnen fremden Kulturen mit Neugier und Respekt, lernen von ihren Lebensweisen und künstlerischen Schätzen. Wir heißen Menschen aus anderen Ländern willkommen, weil wir sie als Bereicherung für unsere Gesellschaft sehen. Deutschland ist ein Land der Offenheit und des Miteinanders. Und wir werden auch den offen gelebten Neuerungen gegenüber aufgeschlossen bleiben.

Es war ein Video, das für Empörung und Kontroversen sorgte: Am 26. August 2018 zeigte ein Twitter-Account namens “Antifa Zeckenbiss” eine 19-sekündige Aufnahme, die mehrere Männer zeigt, wie sie anderen hinterherlaufen und sie davonjagen. Die Verfolgten sehen aus wie Migranten. Einer der Verfolger tritt mit einem Fuß nach einem der jungen Männer. “Haut ab”-Rufe sind zu hören und “Ihr seid nicht willkommen”. Einer der Männer aus der Angreifer-Gruppe trägt ein T-Shirt, darauf ist “Chemnitz-Einsiedel” zu lesen, außerdem: „Tradition statt Invasion“1.

Das Video wurde als Beleg für eine “Hetzjagd” auf Ausländer in Chemnitz präsentiert, die nach dem gewaltsamen Tod des 35-jährigen Daniel H. durch mutmaßliche Asylbewerber ausgelöst worden sei. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von “Zusammenrottungen” und “Hetzjagden”, die sie scharf verurteilte2. Regierungssprecher Steffen Seibert bezog sich explizit auf das Video und sagte: „Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, oder der Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten, das nehmen wir nicht hin.“3

Doch was zeigt das Video wirklich? Und wer hat es aufgenommen und verbreitet? Diese Fragen beschäftigten nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Ermittlungsbehörden und die Politik. Der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, zweifelte die Authentizität des Videos an und sprach von einer möglichen “gezielten Falschinformation”, um von dem Mord in Chemnitz abzulenken. Er wurde daraufhin heftig kritisiert und musste schließlich seinen Posten räumen.

Ein Jahr später sind einige Fakten über das Video bekannt geworden, die ein differenzierteres Bild ergeben. Das ZDF-Magazin Frontal 21 konnte den Urheber des Videos ausfindig machen: Es handelt sich um einen 38-jährigen Mann aus Chemnitz, der anonym bleiben möchte. Er gab an, dass er das Video zufällig aufgenommen habe, als er mit seinem Fahrrad unterwegs war. Er habe gesehen, wie eine Gruppe von Männern einen dunkelhäutigen Mann verfolgte und ihn beschimpfte. Er habe sein Handy gezückt und die Szene gefilmt. Er habe das Video dann an einen Bekannten weitergeleitet, der es wiederum an den Twitter-Account “Antifa Zeckenbiss” geschickt habe.

Der Urheber des Videos beteuerte, dass er kein politisches Motiv gehabt habe und dass er kein Mitglied der Antifa sei. Er sagte auch, dass er nicht wisse, wer der Verfolgte war oder was ihm vorausgegangen war. Er habe nur eine Momentaufnahme festgehalten, die seiner Meinung nach eine rassistische Attacke zeigte.

Das ZDF konnte auch den Verfolgten identifizieren: Es handelt sich um einen 20-jährigen Mann aus dem Irak, der seit 2015 in Deutschland lebt. Er gab an, dass er an dem Tag mit zwei Freunden in Chemnitz unterwegs war, als sie plötzlich von einer Gruppe von Männern angepöbelt wurden. Er sagte, dass er nichts getan habe und dass er kein Taschendieb sei. Er sei dann weggerannt, um sich in Sicherheit zu bringen. Er habe Angst um sein Leben gehabt.

Der Verfolgte sagte auch, dass er das Video erst später im Internet gesehen habe und dass er sich nicht an den Mann erinnere, der ihn gefilmt habe. Er sei froh, dass es das Video gebe, weil es zeige, was ihm passiert sei. Er sei aber auch traurig, dass es so viel Hass in Deutschland gebe.

Die Staatsanwaltschaft Chemnitz hat die Ermittlungen zu dem Fall abgeschlossen. Sie hat festgestellt, dass es sich bei dem Video um eine authentische Aufnahme handelt, die nicht manipuliert wurde. Sie hat auch die Personalien der Verfolger ermittelt: Es handelt sich um vier Männer im Alter von 32 bis 43 Jahren, die der rechten Szene in Chemnitz zuzuordnen sind. Sie wurden wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung und des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen angeklagt.

Die Staatsanwaltschaft hat jedoch auch betont, dass es sich bei dem Video um einen Einzelfall handelt, der nicht repräsentativ für die Geschehnisse in Chemnitz sei. Sie hat keine weiteren Beweise für systematische oder organisierte Hetzjagden auf Ausländer gefunden. Sie hat auch keine Hinweise darauf, dass das Video gezielt gestreut wurde, um von dem Mord an Daniel H. abzulenken.

Das Video von der Verfolgungsszene in Chemnitz hat also eine Welle von Reaktionen ausgelöst, die teilweise über das hinausgingen, was das Video tatsächlich zeigt. Es hat aber auch ein reales Problem aufgezeigt: Die Anfälligkeit für Gewalt und Rassismus in Teilen der Gesellschaft. Es bleibt zu hoffen, dass die juristische Aufarbeitung des Falls zu einer Versachlichung der Debatte beiträgt und dass die Opfer von Gewalt und Diskriminierung nicht vergessen werden.

https://www.cicero.de/innenpolitik/chemnitz-hetzjagden-daniel-h-hans-georg-maassen

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