Nemmersdorf 1944 – Das erste Massaker auf deutschem Boden
- Oktober 2025
Im Oktober 1944 erreichte der Zweite Weltkrieg eine neue, erschütternde Dimension. Mit dem Vormarsch der Roten Armee nach Ostpreußen wurde erstmals deutsches Reichsgebiet betreten. Das kleine Dorf Nemmersdorf, heute Majakowskoje in der russischen Oblast Kaliningrad, wurde am 21. Oktober 1944 von sowjetischen Truppen eingenommen. Was dort geschah, ging als „Massaker von Nemmersdorf“ in die Geschichte ein und wurde zu einem Symbol für die Grausamkeit des Krieges – aber auch für die Macht der Propaganda.
Nemmersdorf lag an einer strategisch wichtigen Brücke über die Angerapp. Als sowjetische Panzer den Übergang erreichten, waren viele Dorfbewohner bereits geflohen. Zurück blieben vor allem ältere Menschen, Frauen und Kinder. Zeitzeugen berichten, dass die Zivilisten in Kellern und Bunkern Schutz suchten. Doch die sowjetischen Soldaten drangen in die Häuser ein, erschossen Menschen auf offener Straße und töteten jene, die sich in Schutzräumen versteckt hatten.
Die Zahl der Opfer ist bis heute umstritten. Während die NS-Propaganda von 70 bis 80 Toten sprach, gehen heutige Historiker von etwa 19 bis 30 Zivilisten aus. Dennoch bleibt unbestritten, dass es zu gezielten Tötungen kam. Besonders erschütternd sind die Berichte über Frauen, die vor ihrem Tod misshandelt wurden. Eine Überlebende, Gerda Meczulat, schilderte später: „Wir saßen im Bunker, als die Russen kamen. Sie riefen uns heraus, stellten uns an die Wand und schossen. Ich fiel zu Boden, spürte, wie die Kugeln an mir vorbeigingen. Neben mir brachen Menschen zusammen.“
Auch andere Zeitzeugen bestätigten, dass Zivilisten ohne Vorwarnung erschossen wurden. Der ostpreußische Arzt Dr. Heinrich Amberger, der kurz nach der Rückeroberung durch deutsche Truppen in Nemmersdorf eintraf, berichtete von erschütternden Szenen: „Ich sah Frauen, die nackt an Scheunentore genagelt waren, und alte Menschen, die erschlagen worden waren.“ Ob alle diese Darstellungen authentisch sind, ist in der Forschung umstritten, da die NS-Propaganda die Ereignisse gezielt für ihre Zwecke ausschlachtete. Fotografien wurden verbreitet, Leichen arrangiert und Berichte überhöht, um die deutsche Bevölkerung zum Durchhalten zu motivieren.
Nach dem Krieg blieb Nemmersdorf ein umkämpftes Symbol. In Westdeutschland wurde es zum Inbegriff der Leiden der deutschen Zivilbevölkerung, während es in der DDR und der Sowjetunion als reine Propagandalüge abgetan wurde. Erst Historiker wie Bernhard Fisch trugen in den 1990er-Jahren zu einer nüchternen Neubewertung bei. Sie belegten, dass die Opferzahlen deutlich niedriger lagen als jahrzehntelang behauptet, ohne jedoch die Tatsache der Morde selbst in Frage zu stellen.
Heute gilt Nemmersdorf als Beispiel für die Grausamkeit des Krieges und die Schwierigkeit, historische Wahrheit von politischer Instrumentalisierung zu trennen. Die Ereignisse zeigen, wie Zivilisten zwischen die Fronten gerieten und wie Gewalt im Krieg nicht nur militärische, sondern auch symbolische Wirkung entfalten konnte.
Quellen
- Bernhard Fisch: Nemmersdorf, Oktober 1944. Was in Ostpreußen tatsächlich geschah. Berlin 1997.
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