Vergessene Genozide – Ruanda – Das Massaker von Nyarubuye

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Genozide sind die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die je begangen wurden. Sie zeugen von Hass, Intoleranz und Grausamkeit gegenüber bestimmten Gruppen von Menschen, die aufgrund ihrer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Zugehörigkeit verfolgt und vernichtet werden sollen. Doch nicht alle Genozide sind gleich bekannt oder anerkannt. Viele von ihnen sind vergessen oder verdrängt worden, sowohl von den Tätern als auch von der Weltöffentlichkeit. In dieser Artikelreihe wollen wir einige dieser vergessenen Genozide vorstellen und ihre Ursachen, Folgen und Aufarbeitung beleuchten.

Im April 1994 wurde die ruandische Stadt Nyarubuye (Provinz Kibungo) zum Schauplatz eines der schrecklichsten Massaker des Völkermordes in Ruanda, bei dem etwa 800.000 bis eine Million Tutsi und gemäßigte Hutu von extremistischen Hutu ermordet wurden. In diesem Artikel werden die Hintergründe, der Ablauf und die Folgen des Massakers von Nyarubuye dargestellt, das als eines der symbolträchtigsten Beispiele für die Grausamkeit und Menschenverachtung der Täter gilt.

Die Vorgeschichte des Völkermordes

Der Völkermord in Ruanda war das Ergebnis eines langjährigen Konflikts zwischen der damaligen ruandischen Regierung, die von Hutu dominiert wurde, und der Rebellenbewegung Ruandische Patriotische Front (RPF), die hauptsächlich aus Tutsi bestand. Die ethnischen Spannungen zwischen Hutu und Tutsi hatten ihre Wurzeln in der kolonialen Vergangenheit Ruandas, als die belgischen Kolonialherren die Tutsi als eine überlegene Rasse betrachteten und ihnen Privilegien gewährten, während sie die Hutu diskriminierten und unterdrückten. Nach der Unabhängigkeit Ruandas im Jahr 1962 kam es zu einer Umkehrung der Machtverhältnisse, als die Hutu-Revolution die Tutsi-Monarchie stürzte und ein Hutu-Regime unter Grégoire Kayibanda errichtete. Dieses Regime verfolgte eine Politik der ethnischen Säuberung gegen die Tutsi, die zu mehreren Pogromen und Fluchtwellen führte. Die verbliebenen Tutsi wurden systematisch marginalisiert und entrechtet.

In den 1980er Jahren verschärfte sich die politische und wirtschaftliche Krise in Ruanda, die durch Überbevölkerung, Armut, Korruption und Umweltprobleme gekennzeichnet war. Die Tutsi-Flüchtlinge in den Nachbarländern organisierten sich unter der Führung von Paul Kagame in der RPF, um ihre Rückkehr nach Ruanda zu fordern. Im Oktober 1990 griffen sie Ruanda von Uganda aus an und lösten einen Bürgerkrieg aus, der bis 1993 andauerte. Unter internationalem Druck schloss die ruandische Regierung unter Präsident Juvénal Habyarimana im August 1993 ein Friedensabkommen mit der RPF in Arusha (Tansania), das eine Machtteilung und eine politische Öffnung vorsah. Dieses Abkommen stieß jedoch auf den Widerstand von radikalen Hutu-Gruppen, die sich unter dem Schlagwort “Hutu-Power” zusammenschlossen und eine anti-tutsi Propaganda verbreiteten. Sie bereiteten sich auch auf einen Genozid vor, indem sie Waffen beschafften, Milizen bildeten und Todeslisten erstellten.

Der Ausbruch des Genozids

Der Funke, der den Genozid auslöste, war der Abschuss des Flugzeugs von Präsident Habyarimana am 6. April 1994 bei seiner Rückkehr aus Tansania. Die Verantwortung für dieses Attentat ist bis heute umstritten, aber es wird vermutet, dass es entweder von extremistischen Hutu oder von der RPF ausgeführt wurde. Unmittelbar nach dem Tod des Präsidenten übernahm eine Gruppe von radikalen Hutu-Offizieren unter dem Namen “Crisis Committee” die Macht in Kigali und begann mit der Ermordung von prominenten Tutsi und gemäßigten Hutu-Politikern. Sie riefen auch über Radio und Fernsehen zur “Selbstverteidigung” gegen die “Inyenzi” (Kakerlaken), wie sie die Tutsi abfällig nannten, auf. Die Gewalt breitete sich schnell über das ganze Land aus, unterstützt von der ruandischen Armee, der Präsidentengarde, der Nationalpolizei, der Verwaltung und den Milizen der Impuzamugambi und vor allem der Interahamwe. Auch weite Teile der Hutu-Zivilbevölkerung beteiligten sich am Völkermord, oft aus Angst, Zwang oder Opportunismus.

Die Täter des Völkermordes verfolgten ein klares Ziel: die vollständige Auslöschung der Tutsi als ethnische Gruppe. Sie töteten Männer, Frauen und Kinder mit Macheten, Speeren, Keulen, Handgranaten und Gewehren. Sie vergewaltigten und verstümmelten Frauen und Mädchen. Sie plünderten und zerstörten Häuser, Geschäfte, Schulen und Kirchen. Sie verhinderten die Flucht oder die Rettung der Opfer, indem sie Straßensperren errichteten oder internationale Helfer bedrohten. Sie führten Listen von Tutsi und ihren Sympathisanten, die sie systematisch aufspürten und ermordeten. Sie handelten nach Weisungen von lokalen Autoritäten oder Radiosendern wie Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM), die ihnen Namen, Adressen und Verstecke von Tutsi nannten.

Das Massaker von Nyarubuye

Eines der schlimmsten Massaker des Völkermordes fand in der Stadt Nyarubuye statt, die etwa 81 Kilometer östlich von Kigali liegt. In dieser Stadt lebten vor dem Genozid etwa 30.000 Menschen, von denen etwa 10.000 Tutsi waren. Die Tutsi von Nyarubuye waren relativ wohlhabend und genossen einen gewissen Respekt von ihren Hutu-Nachbarn. Sie hatten auch gute Beziehungen zu den lokalen Behörden, insbesondere zum Bürgermeister Sylvestre Gacumbitsi, der als gemäßigt galt.

Als die Nachricht vom Tod des Präsidenten Habyarimana Nyarubuye erreichte, brach jedoch Panik aus. Die Tutsi befürchteten einen Angriff von den Hutu-Milizen oder von den Flüchtlingen aus dem Norden, die in einem nahe gelegenen Lager lebten. Sie beschlossen daher, Zuflucht in der römisch-katholischen Kirche von Nyarubuye zu suchen, die als ein sicherer Ort galt. Die Kirche war ein großes Gebäude aus Stein mit einem roten Ziegeldach und einem Glockenturm. Sie war umgeben von einem Zaun aus Metallstangen und einem Graben. In der Kirche befanden sich auch eine Schule, ein Pfarrhaus, eine Krankenstation und ein Fußballplatz.

Die Tutsi hofften, dass die Kirche ihnen Schutz bieten würde, da sie ein heiliger Ort war und unter dem Schirm der katholischen Kirche stand. Sie hofften auch auf die Hilfe des Priesters Athanase Seromba, der selbst ein Hutu war, aber als freundlich zu den Tutsi galt. Sie brachten ihre Wertsachen, ihre Lebensmittel und ihre wenigen Waffen mit in die Kirche. Sie versuchten auch, Kontakt mit den Vereinten Nationen oder anderen internationalen Organisationen aufzunehmen, um Hilfe zu erbitten.

Ihre Hoffnungen wurden jedoch bald zunichte gemacht. Am 12. April 1994 wurde Nyarubuye von einer Gruppe von etwa 200 Soldaten und Milizionären angegriffen, die aus Kigali kamen. Sie wurden von Gitera Rwamuhizi angeführt, einem ehemaligen Lehrer und Mitglied der Interahamwe. Sie kamen in Lastwagen und Jeeps an und trugen Uniformen, Sturmgewehre und Granatwerfer. Sie begannen sofort damit, die Tutsi in der Stadt zu töten oder zu vertreiben. Viele Tutsi flohen in die Kirche oder wurden dorthin getrieben.

Der Bürgermeister Gacumbitsi versuchte zunächst noch, die Angreifer aufzuhalten oder zumindest zu verlangsamen. Er sagte ihnen, dass sie keine Erlaubnis hätten, in seiner Gemeinde zu töten. Er sagte ihnen auch, dass er selbst eine Liste von Tutsi habe, die er nach Kigali bringen würde, wo er sie persönlich befragen würde. Er sagte ihnen auch, dass die Kirche ein heiliger Ort sei, den sie nicht entweihen sollten. Er bot ihnen sogar Geld an, um sie zu bestechen.

Die Angreifer hörten jedoch nicht auf ihn. Sie sagten ihm, dass er ein Verräter sei, der mit den Inyenzi kollaborierte. Sie sagten ihm auch, dass sie Befehle von höherer Stelle hätten, alle Tutsi auszurotten. Sie drohten ihm, ihn zu töten, wenn er sich ihnen widersetzen würde. Sie zwangen ihn schließlich, sich ihnen anzuschließen und an dem Massaker teilzunehmen.

Der Priester Seromba war auch keine Hilfe für die Tutsi in der Kirche. Er verließ die Kirche kurz vor dem Angriff und schloss sich den Angreifern an. Er gab ihnen Informationen über die Anzahl und die Identität der Tutsi in der Kirche. Er gab ihnen auch den Schlüssel zu dem Tor, das die Kirche umgab. Er sagte ihnen, dass sie die Kirche zerstören und alle Tutsi töten sollten.

Das Massaker begann am 14. April 1994 und dauerte bis zum 16. April 1994. Die Angreifer umzingelten die Kirche und beschossen sie mit Gewehren und Granatwerfern. Sie warfen auch Handgranaten und Molotowcocktails in die Kirche. Sie setzten Feuer an das Dach und an die Vorhänge. Sie brachen das Tor auf und drangen in die Kirche ein. Sie töteten die Tutsi mit Macheten, Keulen, Nägeln und Scheren. Sie vergewaltigten Frauen und Mädchen vor den Augen ihrer Familien. Sie spalteten Schwangeren den Bauch auf und töteten ihre ungeborenen Kinder. Sie zerhackten Leichen und warfen sie in einen Massengrab oder in einen Fluss.

Die Tutsi in der Kirche versuchten verzweifelt, sich zu verteidigen oder zu verstecken. Einige von ihnen hatten Messer, Macheten oder Speere, mit denen sie einige Angreifer töteten oder verwundeten. Andere versteckten sich unter den Bänken, hinter dem Altar oder unter den Leichen. Einige versuchten zu fliehen, indem sie über den Zaun kletterten oder durch ein Fenster sprangen. Die meisten von ihnen wurden jedoch entdeckt und getötet.

Die Angreifer waren grausam und gnadenlos. Sie machten keine Unterschiede zwischen Alten und Jungen, zwischen Frauen und Männern, zwischen Kranken und Gesunden. Sie töteten sogar ihre eigenen Nachbarn, Freunde oder Verwandten, die Tutsi waren oder mit Tutsi verheiratet waren. Sie töteten aus Hass, aus Rache, aus Gier oder aus Spaß. Sie töteten im Namen der Hutu-Power.

Das Massaker von Nyarubuye war eines der längsten und blutigsten des Völkermordes in Ruanda. Es wird geschätzt, dass etwa 20.000 bis 25.000 Tutsi in der Kirche ermordet wurden. Nur wenige überlebten das Massaker, indem sie sich tot stellten oder sich in einem Wassertank versteckten.

Die Folgen des Massakers

Das Massaker von Nyarubuye blieb lange Zeit unbemerkt von der internationalen Gemeinschaft, die weitgehend untätig blieb angesichts des Völkermordes in Ruanda. Die Vereinten Nationen hatten nur eine kleine Friedenstruppe in Ruanda (UNAMIR), die unter dem Kommando des kanadischen Generals Roméo Dallaire stand. Diese Truppe hatte jedoch ein sehr begrenztes Mandat und war schlecht ausgerüstet und unterbesetzt. Sie konnte nicht verhindern oder stoppen die Massaker, sondern nur einige wenige Menschen retten oder evakuieren.

Erst am 17. April 1994 erreichte eine Gruppe von UNAMIR-Soldaten unter dem Kommando des belgischen Oberstleutnants Luc Marchal Nyarubuye. Sie waren schockiert von dem Anblick, der sich ihnen bot: Die Kirche war ein Trümmerhaufen voller Leichen und Blut. Der Geruch von Verwesung war unerträglich. Die Überlebenden waren traumatisiert und verängstigt. Die UNAMIR-Soldaten versuchten, ihnen zu helfen, indem sie ihnen Wasser, Nahrung und medizinische Versorgung gaben. Sie versuchten auch, die Leichen zu begraben oder zu verbrennen, um eine Seuchengefahr zu vermeiden. Sie konnten jedoch nicht lange in Nyarubuye bleiben, da sie andere Aufgaben hatten.

Das Massaker von Nyarubuye wurde erst im Mai 1994 bekannt, als der französische Journalist Jean Hatzfeld die Stadt besuchte und darüber berichtete. Er interviewte einige Überlebende und Täter des Massakers und schrieb mehrere Artikel und Bücher darüber. Er machte das Massaker von Nyarubuye zu einem Symbol für den Völkermord in Ruanda und für die Schuld der internationalen Gemeinschaft.

Der Völkermord in Ruanda endete im Juli 1994, als die RPF die Kontrolle über das ganze Land übernahm und eine neue Regierung bildete. Die meisten Täter des Völkermordes flohen nach Zaire (heute Demokratische Republik Kongo) oder in andere Nachbarländer. Einige von ihnen wurden jedoch verhaftet oder ausgeliefert und vor Gericht gestellt. Die wichtigsten Prozesse fanden vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) statt, der 1994 vom UN-Sicherheitsrat eingerichtet wurde. Andere Prozesse fanden vor nationalen oder lokalen Gerichten statt, einschließlich der traditionellen Gacaca-Gerichte, die 2001 eingeführt wurden.

Einer der Hauptangeklagten für das Massaker von Nyarubuye war der ehemalige Bürgermeister Sylvestre Gacumbitsi, der 2001 in Tansania verhaftet wurde. Er wurde 2004 vom ICTR wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu lebenslanger Haft verurteilt. Er wurde für schuldig befunden, das Massaker organisiert und angeführt zu haben, sowie für seine Teilnahme an Vergewaltigungen und Morden. Er wurde auch für schuldig befunden, seine Autorität missbraucht zu haben, um die Tutsi zu täuschen und zu verraten.

Ein anderer Angeklagter war der ehemalige Priester Athanase Seromba, der 1994 nach Italien geflohen war. Er wurde 2002 vom Vatikan ausgewiesen und an den ICTR überstellt. Er wurde 2006 vom ICTR wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 15 Jahren Haft verurteilt. Er wurde für schuldig befunden, das Massaker ermöglicht und gefördert zu haben, sowie für seine Rolle bei der Zerstörung der Kirche. Seine Strafe wurde 2008 in Berufung auf lebenslange Haft erhöht.

Das Massaker von Nyarubuye ist bis heute ein Trauma für die Überlebenden und ein Mahnmal für die Welt. Die Kirche von Nyarubuye wurde zu einem Gedenkort umgewandelt, an dem die Leichen und die Überreste der Opfer aufbewahrt werden. Jedes Jahr finden dort Gedenkfeiern statt, um an das Massaker zu erinnern und um Frieden und Versöhnung zu bitten.

Das Massaker von Nyarubuye ist auch ein Beispiel für die Komplexität und die Herausforderungen der Aufarbeitung eines Genozids. Wie kann man Gerechtigkeit schaffen für die Opfer und ihre Familien? Wie kann man Vergebung gewähren oder erhalten für die Täter und ihre Angehörigen? Wie kann man Heilung finden für die Wunden und Narben, die der Völkermord hinterlassen hat? Wie kann man eine gemeinsame Zukunft aufbauen für ein Land, das von Hass und Gewalt zerrissen wurde?

Diese Fragen haben keine einfachen Antworten, aber sie müssen gestellt werden, um das Massaker von Nyarubuye nicht zu vergessen oder zu wiederholen.

Quellen:

: Das Massaker von Nyarubuye

: The Horror of Nyarubuye

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