Vergessene Genozide – Ruanda – Das Massaker von Kicukiro: Wie die UNO die Tutsi im Stich ließ

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Genozide sind die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die je begangen wurden. Sie zeugen von Hass, Intoleranz und Grausamkeit gegenüber bestimmten Gruppen von Menschen, die aufgrund ihrer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Zugehörigkeit verfolgt und vernichtet werden sollen. Doch nicht alle Genozide sind gleich bekannt oder anerkannt. Viele von ihnen sind vergessen oder verdrängt worden, sowohl von den Tätern als auch von der Weltöffentlichkeit. In dieser Artikelreihe wollen wir einige dieser vergessenen Genozide vorstellen und ihre Ursachen, Folgen und Aufarbeitung beleuchten.

Wir kommen jetzt zu dem dunkelsten Kapitel der UNO, dem Versagen der Mächtigen und deren Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid. Dieses Kapitel in Ruanda im Jahre 1994 stellte sogar Sarajevo in den Schatten.

Es war der 11. April 1994, ein Tag, der in die Geschichte Ruandas als einer der dunkelsten eingehen sollte. In Kicukiro, einem Stadtteil von Kigali, der Hauptstadt des ostafrikanischen Landes, hatten sich rund 2.000 Tutsi in einer Schule verschanzt, um dem Völkermord zu entkommen, der seit dem 7. April im ganzen Land wütete. Sie hofften auf Schutz durch die Blauhelme der Vereinten Nationen, die dort stationiert waren. Doch an diesem Tag geschah das Unfassbare: Die UN-Soldaten zogen sich ab und überließen die wehrlosen Zivilisten ihrem Schicksal.

Die Hintergründe des Völkermords

Der Völkermord in Ruanda war das Ergebnis eines langjährigen Konflikts zwischen der Hutu-Mehrheit und der Tutsi-Minderheit, die historisch benachteiligt und unterdrückt worden war. Nach der Unabhängigkeit von Belgien im Jahr 1962 kam es zu mehreren Putschen und Massakern an den Tutsi, die viele von ihnen ins Exil trieben. Eine davon war die Ruandische Patriotische Front (RPF), eine Rebellenbewegung, die 1990 aus Uganda in Ruanda einmarschierte und einen Bürgerkrieg auslöste.

Nach jahrelangen Verhandlungen unterzeichneten die ruandische Regierung und die RPF im August 1993 ein Friedensabkommen in Arusha, Tansania, das eine Machtteilung und eine Übergangsregierung vorsah. Um die Umsetzung des Abkommens zu überwachen, wurde eine UN-Friedensmission namens UNAMIR (United Nations Assistance Mission for Rwanda) eingerichtet, die aus rund 2.500 Soldaten aus verschiedenen Ländern bestand.

Doch das Abkommen stieß auf Widerstand von extremistischen Hutu, die eine “Hutu-Power”-Ideologie vertraten und die Tutsi als Feinde betrachteten. Sie bereiteten sich heimlich auf einen Genozid vor, indem sie Waffen und Macheten beschafften und Hasspropaganda verbreiteten. Am 6. April 1994 wurde das Flugzeug des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana, einem Hutu, bei der Landung in Kigali abgeschossen. Die Täter sind bis heute unbekannt, aber die Hutu-Extremisten nutzten den Anschlag als Vorwand, um ihre mörderischen Pläne in die Tat umzusetzen.

Die Eskalation der Gewalt

In den folgenden Stunden und Tagen begannen Angehörige der ruandischen Armee, der Präsidentengarde, der Nationalpolizei und der Milizen Interahamwe und Impuzamugambi systematisch Tutsi und moderate Hutu zu ermorden. Sie errichteten Straßensperren, um ihre Opfer zu identifizieren und zu töten. Sie stürmten Häuser, Kirchen, Schulen und Krankenhäuser, um jeden zu massakrieren, der ihnen in die Quere kam. Sie vergewaltigten Frauen und Mädchen, verstümmelten Leichen und verbrannten sie. Sie benutzten Radiosender wie Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM), um zur Gewalt anzustacheln und den Aufenthaltsort von Flüchtlingen preiszugeben.

Die internationale Gemeinschaft reagierte mit Untätigkeit und Gleichgültigkeit auf die Gräueltaten. Die UNAMIR war unterbesetzt, unterbewaffnet und hatte kein klares Mandat zum Eingreifen. Der damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali bezeichnete den Konflikt als “Stammeskrieg”, für den die UNO nicht zuständig sei. Der damalige US-Präsident Bill Clinton vermied es bewusst, das Wort “Genozid” zu verwenden, um sich nicht zu einer Intervention verpflichtet zu fühlen. Die meisten westlichen Länder evakuierten ihre Bürger und Diplomaten aus Ruanda, ohne sich um die ruandischen Zivilisten zu kümmern.

Die RPF reagierte auf den Völkermord, indem sie ihre Offensive gegen die Hutu-Regierung verstärkte. Sie rückte von Norden nach Süden vor und eroberte nach und nach das Land. Dabei kam es auch zu Vergeltungsaktionen und Menschenrechtsverletzungen von ihrer Seite. Am 4. Juli 1994 nahm die RPF Kigali ein und erklärte den Krieg für beendet. Bis dahin waren schätzungsweise 800.000 bis 1.000.000 Menschen dem Völkermord zum Opfer gefallen, die meisten von ihnen Tutsi.

Das Massaker von Kicukiro

Einer der Orte, an denen sich das Drama des Völkermords abspielte, war Kicukiro, ein Stadtteil von Kigali, der vor allem von Tutsi bewohnt war. Als die Gewalt ausbrach, suchten viele von ihnen Zuflucht in der École Technique Officielle (ETO), einer technischen Schule, die von belgischen Priestern geleitet wurde. Dort waren auch rund 90 belgische UN-Soldaten stationiert, die als Teil der UNAMIR das Friedensabkommen überwachen sollten.

Die Tutsi-Flüchtlinge glaubten, dass sie unter dem Schutz der UNO sicher seien. Sie vertrauten auf die Zusicherungen der Blauhelme, dass sie nicht im Stich gelassen würden. Doch sie irrten sich. Am 11. April 1994 erhielten die belgischen Soldaten den Befehl, sich zurückzuziehen und sich dem Evakuierungskonvoi anzuschließen, der ausländische Staatsangehörige aus Ruanda bringen sollte. Trotz ihrer Bedenken und ihres Unwillens folgten sie dem Befehl und verließen die Schule.

Die Tutsi blieben allein zurück, ohne Waffen, ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne Hoffnung. Sie flehten die UN-Soldaten an, sie mitzunehmen oder ihnen wenigstens ihre Waffen zu überlassen, aber vergeblich. Sie versuchten, sich in den Klassenräumen und auf dem Dach zu verstecken, aber es war zu spät. Die Hutu-Milizen hatten das Abziehen der Blauhelme beobachtet und warteten nur auf den richtigen Moment, um zuzuschlagen.

Sie umzingelten die Schule und griffen sie mit Macheten, Knüppeln, Granaten und Gewehren an. Sie töteten jeden, den sie fanden, ohne Gnade, ohne Erbarmen. Sie schonten weder Frauen noch Kinder noch Alte. Sie machten aus der Schule ein Schlachthaus. Die Schreie der Sterbenden vermischten sich mit dem Lachen der Mörder. Das Blut floss in Strömen und färbte den Boden rot.

Niemand weiß genau, wie viele Menschen an diesem Tag in Kicukiro getötet wurden. Die Schätzungen reichen von 1.000 bis 4.000. Nur wenige überlebten das Massaker, indem sie sich tot stellten oder entkommen konnten. Einer von ihnen war Jean-Pierre Sagahutu, ein Tutsi-Aktivist, der später seine Geschichte in dem Dokumentarfilm “Ghosts of Rwanda” erzählte:

“Sie kamen mit Macheten und begannen zu töten. Ich sah meine Mutter sterben, meinen Bruder sterben, meine Schwester sterben … Ich rannte weg und versteckte mich unter einem Auto … Ich hörte sie sagen: ‘Wir haben alle getötet … Wir haben alle getötet …’”

Die Aufarbeitung des Massakers

Das Massaker von Kicukiro ist eines der vielen Beispiele für das Versagen der internationalen Gemeinschaft, den Völkermord in Ruanda zu verhindern oder zu stoppen. Es ist auch eines der Symbole für den Verrat und die Feigheit der UNO, die ihre Verantwortung für den Schutz der Zivilbevölkerung nicht wahrnahm.

Die UNO hat sich später für ihr Verhalten entschuldigt und eine Untersuchungskommission eingesetzt, um die Fehler und Versäumnisse aufzudecken.

Der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan gab 1998 zu, dass die UNO “nicht in der Lage war, die Tragödie zu verhindern oder zu stoppen” und bat um Vergebung von den Überlebenden. Er sagte: “Wir alle müssen uns schuldig bekennen. Wir haben nicht genug getan, um auf die Warnzeichen zu reagieren und die Katastrophe zu vermeiden. Wir haben nicht genug getan, um den Völkermord zu stoppen, als er begann. Wir haben nicht genug getan, um die Menschen zu retten, die in Gefahr waren.”

Die belgische Regierung hat ebenfalls ihre Rolle bei dem Massaker von Kicukiro anerkannt und sich dafür entschuldigt. Der damalige belgische Premierminister Guy Verhofstadt sagte 2000 bei einem Besuch in Ruanda: “Wir haben einen schweren Fehler begangen, als wir unsere Soldaten aus Kicukiro abgezogen haben. Wir haben die Menschen dort ihrem Schicksal überlassen. Wir haben unsere moralische Pflicht verletzt. Wir bitten um Vergebung für diesen Fehler.”

Die Überlebenden des Massakers von Kicukiro haben versucht, mit dem Trauma und dem Verlust fertig zu werden, den sie erlitten haben. Viele von ihnen leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen und Angstzuständen. Einige von ihnen haben sich an Versöhnungsinitiativen beteiligt, um mit den Tätern oder ihren Angehörigen in Kontakt zu treten und ihnen zu vergeben. Andere haben sich für Gerechtigkeit und Erinnerung eingesetzt, um die Wahrheit über das Massaker aufzudecken und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Die École Technique Officielle wurde nach dem Völkermord renoviert und wiedereröffnet. Sie ist heute eine der größten Schulen in Ruanda und bietet Bildung für Tausende von Schülern an. Auf dem Gelände der Schule wurde ein Gedenkort errichtet, der an die Opfer des Massakers erinnert. Dort sind Fotos, Kleidungsstücke und Knochen von einigen der Getöteten ausgestellt. Jedes Jahr am 11. April finden dort Gedenkveranstaltungen statt, an denen Überlebende, Angehörige, Regierungsvertreter und Diplomaten teilnehmen.

Das Massaker von Kicukiro ist eine schmerzhafte Lektion für die Menschheit, die zeigt, wie weit Hass und Gewalt gehen können, wenn sie nicht gestoppt werden. Es ist auch eine Mahnung an die internationale Gemeinschaft, ihre Verantwortung für den Schutz der Menschenrechte und die Prävention von Genoziden wahrzunehmen. Es ist schließlich eine Geschichte von Mut und Widerstand der Tutsi-Flüchtlinge, die trotz aller Widrigkeiten versuchten, ihr Leben zu verteidigen.

Quellen:

https://www.un.org/sg/en/content/sg/statement/1998-03-26/secretary-generals-address-kigali-international-airport : https://www.theguardian.com/world/2000/apr/07/congo.rwanda

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