Vergessene Genozide – Das Massaker von Srebrenica – Wie die UNO versagte

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Genozide sind die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die je begangen wurden. Sie zeugen von Hass, Intoleranz und Grausamkeit gegenüber bestimmten Gruppen von Menschen, die aufgrund ihrer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Zugehörigkeit verfolgt und vernichtet werden sollen. Doch nicht alle Genozide sind gleich bekannt oder anerkannt. Viele von ihnen sind vergessen oder verdrängt worden, sowohl von den Tätern als auch von der Weltöffentlichkeit. In dieser Artikelreihe wollen wir einige dieser vergessenen Genozide vorstellen und ihre Ursachen, Folgen und Aufarbeitung beleuchten.

Im Juli 1995 ereignete sich in der bosnischen Stadt Srebrenica eines der schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Mehr als 8000 muslimische Bosnier, fast ausschließlich Männer und Jungen, wurden von bosnisch-serbischen Einheiten unter der Führung von Ratko Mladić ermordet. Das Massaker wurde von internationalen Gerichten als Völkermord eingestuft und löste weltweit Entsetzen und Empörung aus.

Der Hintergrund: Der Zerfall Jugoslawiens und der Bürgerkrieg in Bosnien

Das Massaker von Srebrenica war das Ergebnis eines jahrelangen Konflikts, der mit dem Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien begann. Nach dem Tod des langjährigen Staatspräsidenten Josip Broz Tito im Jahr 1980 kam es zu wachsenden Spannungen zwischen den sechs Teilrepubliken, die unterschiedliche ethnische, religiöse und politische Identitäten hatten. Im Jahr 1991 erklärten sich Slowenien, Kroatien, Mazedonien sowie Bosnien und Herzegowina für unabhängig, während Serbien und Montenegro die Reste des ehemaligen Jugoslawiens bildeten.

Der Austritt Bosnien und Herzegowinas führte zu einem blutigen Bürgerkrieg, der von 1992 bis 1995 andauerte. Die drei größten Bevölkerungsgruppen in dem multiethnischen Land waren Muslime (39,5 Prozent), Serben (32 Prozent) und Kroaten (18,4 Prozent). Während die meisten Muslime und Kroaten einen unabhängigen Staat befürworteten, forderten die Serben einen Anschluss an Serbien oder die Bildung einer eigenen Republik innerhalb Bosniens. Unterstützt wurden sie dabei von der serbischen Führung unter Slobodan Milošević, der eine Großserbien-Ideologie verfolgte.

Der Krieg war geprägt von ethnischen Säuberungen, Vertreibungen und Massakern an Zivilisten. Die bosnisch-serbischen Truppen unter Radovan Karadžić und Ratko Mladić kontrollierten bald mehr als zwei Drittel des Landes und belagerten die Hauptstadt Sarajevo. Die internationale Gemeinschaft reagierte zunächst zögerlich auf den Konflikt. Die Vereinten Nationen entsandten Blauhelm-Soldaten, um humanitäre Hilfe zu leisten und Schutzzonen für die bedrängten Muslime einzurichten. Eine dieser Schutzzonen war Srebrenica.

Die Vorgeschichte: Die Schutzzone Srebrenica

Srebrenica war eine kleine Stadt im Osten Bosniens, nahe der Grenze zu Serbien. Vor dem Krieg lebten dort etwa 37.000 Menschen, davon etwa 75 Prozent Muslime. Die Stadt war seit April 1992 von den bosnisch-serbischen Truppen umzingelt und wurde regelmäßig beschossen und angegriffen. Tausende Flüchtlinge aus den umliegenden Dörfern suchten in Srebrenica Zuflucht vor den serbischen Gräueltaten.

Im April 1993 erklärte der UN-Sicherheitsrat Srebrenica zu einer “sicheren Zone”, in der die Zivilbevölkerung unter dem Schutz der UN stehen sollte. Die bosnisch-serbischen Truppen sollten sich aus dem Gebiet zurückziehen und ihre schweren Waffen abgeben oder unter UN-Aufsicht stellen. Die UN entsandten ein niederländisches Blauhelm-Bataillon (Dutchbat) nach Srebrenica, um die Einhaltung dieser Bedingungen zu überwachen.

Die Realität sah jedoch anders aus. Die bosnisch-serbischen Truppen zogen sich nicht vollständig zurück und behielten ihre schweren Waffen in Reichweite. Die niederländischen Soldaten waren zu wenige, zu schlecht ausgerüstet und zu wenig motiviert, um die Schutzzone effektiv zu verteidigen. Die humanitäre Situation in Srebrenica verschlechterte sich zusehends. Die Stadt war von der Außenwelt abgeschnitten und litt unter Nahrungsmittel-, Wasser- und Medikamentenmangel. Die Bevölkerung wuchs auf etwa 40.000 Menschen an, die in ständiger Angst vor einem serbischen Angriff lebten.

Das Massaker: Der Fall Srebrenicas und die Ermordung der Muslime

Am 6. Juli 1995 begannen die bosnisch-serbischen Truppen eine Großoffensive gegen die Schutzzone Srebrenica. Trotz der Anwesenheit der UN-Blauhelme und der Drohung von NATO-Luftangriffen rückten sie schnell vor und eroberten mehrere muslimische Dörfer. Die niederländischen Soldaten waren machtlos, um den Vormarsch zu stoppen. Sie forderten zwar Luftunterstützung an, aber diese kam entweder zu spät oder gar nicht.

Am 11. Juli fiel Srebrenica in die Hände der bosnisch-serbischen Truppen unter Ratko Mladić. Er versprach den Zivilisten, dass sie evakuiert werden würden, wenn sie sich in dem nahe gelegenen Dorf Potočari sammeln würden, wo sich auch die niederländische Basis befand. Tausende von Muslimen flohen in Panik nach Potočari, während andere versuchten, durch die Wälder zu entkommen.

In Potočari begann das Grauen. Die bosnisch-serbischen Soldaten sonderten systematisch die männlichen Muslime aus, die sie als Kriegsgefangene bezeichneten. Sie behaupteten, dass sie nur ihre Identität überprüfen wollten, aber in Wirklichkeit führten sie sie zum Tode. Die Frauen, Kinder und Alten wurden in Bussen abtransportiert, aber auch sie wurden unterwegs misshandelt, beraubt und vergewaltigt.

Die Männer und Jungen wurden an verschiedenen Orten in der Nähe von Srebrenica hingerichtet. Einige wurden erschossen, andere mit Messern oder Äxten getötet. Die Leichen wurden in Massengräbern verscharrt oder später umgebettet, um die Spuren zu verwischen. Die niederländischen Soldaten konnten oder wollten nicht eingreifen, um das Blutbad zu verhindern. Sie wurden schließlich am 21. Juli von den bosnisch-serbischen Truppen freigelassen.

Die Folgen: Die Aufarbeitung des Völkermords

Das Massaker von Srebrenica schockierte die Weltöffentlichkeit und führte zu einem Umdenken in der internationalen Politik. Die NATO verstärkte ihre Luftangriffe gegen die bosnisch-serbischen Stellungen und zwang sie zu Verhandlungen. Im November 1995 wurde in Dayton (USA) ein Friedensabkommen unterzeichnet, das den Krieg in Bosnien beendete und das Land in zwei Entitäten teilte: die Föderation Bosnien und Herzegowina (hauptsächlich von Muslimen und Kroaten bewohnt) und die Republika Srpska (hauptsächlich von Serben bewohnt).

Die juristische Aufarbeitung des Massakers von Srebrenica begann vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag, der 1993 gegründet worden war, um die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien zu verfolgen. Der ICTY bezeichnete das Massaker als Völkermord und verurteilte mehrere bosnisch-serbische Militärs und Politiker zu langen Haftstrafen, darunter Radovan Karadžić (2016) und Ratko Mladić (2017). Auch der Internationale Gerichtshof (IGH), das höchste Gericht der Vereinten Nationen, bewertete das Massaker als Völkermord und verurteilte Serbien 2007 wegen Verletzung der Genozidkonvention.

Die Suche nach den Opfern des Massakers dauert bis heute an. Mehr als 7000 Leichen wurden bisher aus den Massengräbern geborgen und mithilfe von DNA-Analysen identifiziert. Jedes Jahr werden am 11. Juli, dem Jahrestag des Massakers, die neu identifizierten Opfer in einem Gedenkzentrum in der Nähe von Srebrenica beigesetzt. Die Angehörigen der Opfer fordern Gerechtigkeit und Anerkennung für ihr Leid. Die Überlebenden des Massakers leiden oft unter posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen und Angstzuständen.

Die politische Aufarbeitung des Massakers von Srebrenica ist noch nicht abgeschlossen. Die Beziehungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen in Bosnien sind nach wie vor angespannt und von Misstrauen geprägt. Die Republika Srpska leugnet bis heute, dass das Massaker ein Völkermord war, und verhindert eine gemeinsame Erinnerungskultur. Die internationale Gemeinschaft bemüht sich um eine Stabilisierung und Integration Bosniens in die europäischen Strukturen, aber die Fortschritte sind langsam und ungleichmäßig.

Das Massaker von Srebrenica bleibt ein dunkles Kapitel in der europäischen Geschichte, das nicht vergessen werden darf. Es zeigt, wie Hass, Nationalismus und Gewalt zu unsäglichem Leid führen können, aber auch, wie wichtig es ist, für Frieden, Menschenrechte und Versöhnung einzutreten. Das Massaker von Srebrenica ist eine Mahnung an uns alle, die Würde jedes Menschen zu respektieren und zu schützen.

Quellen:

[1] UN-Sicherheitsrat: Resolution 819 (1993) vom 16. April 1993

[2] UN-Sicherheitsrat: Resolution 836 (1993) vom 4. Juni 1993

[3] ICTY: Prosecutor v. Radovan Karadžić – Judgement Summary for Karadžić vom 24. März 2016

[4] ICTY: Prosecutor v. Ratko Mladić – Judgement Summary for Mladić vom 22. November 2017

[5] IGH: Case Concerning Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro) – Judgement vom 26. Februar 2007

[6] International Commission on Missing Persons: ICMP’s Role in Accounting for the Missing from the Fall of Srebrenica

[7] Srebrenica-Potočari Memorial Center and Cemetery: About Us

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