Der vergessene Genozid – wie das Osmanische Reich die Armenier auslöschte

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Es war einer der ersten systematischen Völkermorde des 20. Jahrhunderts, doch er ist bis heute kaum bekannt: Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich. Zwischen 1915 und 1916 wurden bis zu 1,5 Millionen Menschen ermordet oder in die Wüste getrieben, wo sie elendig verhungerten oder verdursteten. Die türkische Regierung leugnet bis heute, dass es sich um einen Genozid handelte, und verfolgt jeden, der das Gegenteil behauptet. Doch die historischen Fakten sind eindeutig: Die Armenier wurden Opfer einer gezielten Vernichtungspolitik, die von den jungtürkischen Machthabern geplant und durchgeführt wurde.

Die Armenier waren eine christliche Minderheit im muslimisch geprägten Osmanischen Reich, das Ende des 19. Jahrhunderts in einer tiefen Krise steckte. Das Reich verlor immer mehr Gebiete an seine europäischen Nachbarn und musste sich mit nationalistischen Bewegungen seiner verschiedenen Völker auseinandersetzen. Die Armenier lebten vor allem im Osten Anatoliens, wo sie seit Jahrhunderten ansässig waren. Sie waren meist Bauern, Handwerker oder Händler und genossen eine gewisse Autonomie unter der osmanischen Herrschaft. Doch sie litten auch unter Diskriminierung, Unterdrückung und Steuerlast. Sie forderten mehr Rechte und Reformen, was ihnen den Hass der türkischen Elite einbrachte. Diese sah in ihnen eine Bedrohung für die Einheit und Sicherheit des Reiches.

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu Pogromen und Massakern an den Armeniern, die von Türken und Kurden verübt wurden. Schätzungen zufolge starben dabei zwischen 80.000 und 300.000 Menschen. Die Armenier organisierten sich in politischen Parteien und bewaffneten Gruppen, um sich zu verteidigen und für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen. Einige von ihnen schlossen sich den Russen an, die im Ersten Weltkrieg gegen das Osmanische Reich kämpften.

Der Krieg war der Auslöser für die Eskalation der Gewalt gegen die Armenier. Die jungtürkische Regierung, die 1908 an die Macht gekommen war, nutzte die Kriegssituation aus, um ihre nationalistische und islamistische Ideologie umzusetzen. Sie beschuldigte die Armenier des Verrats und der Kollaboration mit dem Feind und beschloss, sie aus ihren angestammten Gebieten zu vertreiben oder zu vernichten.

Der Beginn des Genozids wird auf den 24. April 1915 datiert, als in Istanbul Hunderte von armenischen Intellektuellen, Politikern, Geistlichen und Künstlern verhaftet und deportiert wurden. Die meisten von ihnen wurden unterwegs ermordet oder in Gefängnissen gefoltert und hingerichtet. Dies war der Auftakt zu einer systematischen Kampagne der Ausrottung der armenischen Bevölkerung im ganzen Reich.

Die osmanischen Behörden gaben den Befehl zur Deportation aller Armenier aus ihren Wohnorten in Richtung Syrien oder Mesopotamien (dem heutigen Irak). Dabei machten sie keinen Unterschied zwischen Männern, Frauen, Kindern oder Alten. Die Deportierten wurden in Konvois zusammengedrängt und zu Fuß oder in Viehwaggons transportiert. Sie wurden von osmanischen Soldaten oder gendarmen begleitet, die sie schikanierten, beraubten oder töteten. Viele Deportierte wurden auch von kurdischen Banden überfallen oder von lokalen Muslimen massakriert.

Die Deportationsrouten führten durch unwegsames Gelände, wo es kaum Wasser oder Nahrung gab. Die Deportierten litten unter Hunger, Durst, Krankheiten und Erschöpfung. Viele starben unterwegs oder wurden in Schluchten geworfen oder in Flüssen ertränkt. Diejenigen, die ihr Ziel erreichten, wurden in Konzentrationslagern oder in der Wüste interniert, wo sie weiterhin dem Tod ausgesetzt waren. Nur wenige überlebten oder konnten fliehen.

Die osmanischen Behörden versuchten, die Verbrechen zu vertuschen oder zu rechtfertigen. Sie behaupteten, dass die Deportationen eine notwendige Sicherheitsmaßnahme seien, um die armenischen Aufstände zu unterdrücken und die Grenze zu Russland zu schützen. Sie leugneten, dass es sich um eine gezielte Vernichtung handele, und sprachen von Kriegsopfern oder von unglücklichen Umständen.

Doch die Wahrheit kam ans Licht durch die Berichte von Augenzeugen, die das Grauen miterlebten oder dokumentierten. Dazu gehörten deutsche Diplomaten, Offiziere und Missionare, die als Verbündete des Osmanischen Reiches im Land waren. Sie schickten Telegramme, Briefe und Berichte an ihre Vorgesetzten oder an die Presse, in denen sie die Gräueltaten an den Armeniern schilderten und verurteilten. Einer von ihnen war der deutsche Botschafter in Konstantinopel (dem heutigen Istanbul), Hans Freiherr von Wangenheim, der am 7. Juli 1915 an das Auswärtige Amt schrieb: “Die Verfolgung der Armenier nimmt immer mehr den Charakter einer Ausrottung dieses Volkes an.” 1

Auch andere ausländische Zeugen berichteten über den Genozid, wie amerikanische Konsuln, Diplomaten oder Missionare, die im Osmanischen Reich tätig waren. Einer von ihnen war Henry Morgenthau, der amerikanische Botschafter in Konstantinopel, der in seinen Memoiren schrieb: “Ich bin überzeugt, dass die ganze Bewegung nichts anderes ist als ein Vernichtungskrieg gegen das armenische Volk.” 2

Zudem gab es zahlreiche Fotos und Filme, die das Schicksal der Armenier festhielten. Einige wurden von deutschen Soldaten oder Offizieren aufgenommen, die als Zeugen oder sogar als Mittäter an den Massakern beteiligt waren. Andere stammten von ausländischen Journalisten oder Fotografen, die das Leid der Armenier dokumentierten. Einer von ihnen war der deutsche Arzt und Fotograf Armin T. Wegner, der 1916 als Sanitätsoffizier in Mesopotamien stationiert war. Er machte heimlich Hunderte von Fotos von den armenischen Flüchtlingen und Deportierten, die er später veröffentlichte. Er schrieb dazu: “Ich habe gesehen, was kein Mensch sehen sollte.” 3

Die internationale Reaktion auf den Völkermord war jedoch schwach und unzureichend. Die Alliierten des Osmanischen Reiches, Deutschland und Österreich-Ungarn, protestierten zwar diplomatisch gegen die Verfolgung der Armenier, unternahmen aber nichts, um sie zu stoppen oder zu verhindern. Sie wollten ihren Verbündeten nicht verärgern oder ihre eigenen Interessen im Nahen Osten gefährden.

Die Gegner des Osmanischen Reiches, vor allem Großbritannien, Frankreich und Russland, verurteilten zwar öffentlich den Genozid und drohten mit Konsequenzen für die Verantwortlichen, konzentrierten sich aber auf ihre eigenen Kriegsziele und boten den Armeniern keine wirksame Hilfe an. Die Vereinigten Staaten von Amerika blieben bis 1917 neutral im Krieg und beschränkten sich auf humanitäre Maßnahmen für die Überlebenden.

Erst nach dem Kriegsende kam es zu ersten juristischen Schritten gegen die Täter des Genozids. Die osmanische Regierung wurde durch eine Militärjunta abgelöst, die sich dem Druck der Siegermächte beugte und einige der Hauptverantwortlichen vor Gericht stellte. Die sogenannten Unionistenprozesse fanden zwischen 1919 und 1920 statt und endeten mit mehreren Todesurteilen und langen Haftstrafen für einige jungtürkische Führer und Beamte. Allerdings wurden viele von ihnen entweder begnadigt oder entkamen ins Exil.

Die neue türkische Republik unter Mustafa Kemal Atatürk brach mit dem Osmanischen Reich und verfolgte einen modernen und säkularen Kurs. Sie lehnte jedoch jede Anerkennung oder Wiedergutmachung für den Völkermord an den Armeniern ab und betrachtete ihn als eine historische Lüge. Sie unterdrückte jede Erinnerung oder Forschung zu dem Thema und verbot die Verwendung des Begriffs “Genozid”. Sie verfolgte auch die wenigen überlebenden Armenier, die in der Türkei geblieben waren, und zwang sie zur Assimilation oder zur Auswanderung.

Die armenische Diaspora, die aus den Flüchtlingen und Überlebenden des Genozids entstanden war, versuchte, die Weltöffentlichkeit für das Schicksal ihres Volkes zu sensibilisieren und Gerechtigkeit zu fordern. Sie gründete Organisationen, Vereine und Kirchen, um ihre kulturelle Identität zu bewahren und zu fördern. Sie publizierte Bücher, Zeitschriften und Filme, um die Geschichte und das Leid der Armenier zu dokumentieren und zu verbreiten. Sie organisierte auch Demonstrationen, Petitionen und Gedenkveranstaltungen, um die Anerkennung des Genozids zu erreichen.

Die internationale Gemeinschaft reagierte jedoch lange Zeit mit Gleichgültigkeit oder Zurückhaltung auf die armenische Forderung. Die meisten Staaten wollten keine diplomatischen Spannungen mit der Türkei riskieren oder ihre eigenen geopolitischen Interessen im Nahen Osten gefährden. Nur wenige Staaten erkannten den Völkermord an den Armeniern offiziell an, wie Uruguay (1965), Zypern (1975), Argentinien (1987) oder Russland (1995).

Erst in den letzten Jahrzehnten kam es zu einer verstärkten Aufmerksamkeit und Solidarität für die armenische Sache. Dies lag vor allem an der Unabhängigkeit Armeniens von der Sowjetunion im Jahr 1991, die dem armenischen Volk eine eigene Stimme und einen eigenen Staat gab. Armenien machte die Anerkennung des Genozids zu einer seiner wichtigsten außenpolitischen Prioritäten und baute diplomatische Beziehungen mit vielen Ländern auf. Es errichtete auch ein nationales Denkmal für die Opfer des Genozids in der Hauptstadt Eriwan, das jedes Jahr am 24. April von Tausenden von Menschen besucht wird.

Zudem gab es eine wachsende Bewegung von Historikern, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und Künstlern, die sich für die Aufklärung und Anerkennung des Genozids einsetzten. Sie stützten sich auf zahlreiche Dokumente, Zeugnisse und Beweise, die die systematische Vernichtung der Armenier belegten. Sie forderten auch eine moralische Verantwortung und eine rechtliche Verpflichtung der Türkei und der internationalen Gemeinschaft für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Diese Bewegung fand immer mehr Unterstützung in verschiedenen Teilen der Welt. Immer mehr Staaten erkannten den Völkermord an den Armeniern als historische Tatsache an, wie Frankreich (2001), Kanada (2004), Deutschland (2016) oder die USA (2019). Auch internationale Organisationen wie der Europarat (2001), das Europäische Parlament (1987) oder der Vatikan (2015) sprachen sich für die Anerkennung aus. Zudem gab es zahlreiche kulturelle Initiativen, wie Filme, Bücher oder Ausstellungen, die das Bewusstsein für den Genozid schärften.

Die türkische Regierung reagierte jedoch weiterhin mit Leugnung und Ablehnung auf diese Entwicklungen. Sie bestritt jede Verantwortung oder Schuld für den Genozid und beschuldigte die Armenier der Lüge und der Propaganda. Sie übte auch Druck auf andere Staaten aus, um sie von einer Anerkennung abzuhalten oder sie rückgängig zu machen. Sie verfolgte auch jeden, der den Genozid thematisierte oder kritisierte, wie Journalisten, Schriftsteller oder Politiker. Ein prominentes Beispiel war der türkisch-armenische Journalist Hrant Dink, der 2007 in Istanbul von einem türkischen Nationalisten ermordet wurde.

Der Völkermord an den Armeniern ist somit bis heute ein ungelöstes und umstrittenes Thema, das die Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien sowie zwischen der Türkei und vielen anderen Staaten belastet. Er ist auch eine offene Wunde für das armenische Volk, das nach mehr als einem Jahrhundert immer noch auf Anerkennung, Gerechtigkeit und Versöhnung wartet. Er ist aber auch eine Mahnung für die ganze Welt, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen und sich gegen jede Form von Hass, Gewalt und Diskriminierung zu stellen.

Quellen

: Akçam, Taner. A Shameful Act: The Armenian Genocide and the Question of Turkish Responsibility. New York: Metropolitan Books, 2006.

: Morgenthau, Henry. Ambassador Morgenthau’s Story. New York: Doubleday, Page & Company, 1918.

: Wegner, Armin T. The Trial of Talaat Pasha: Proceedings of a Court-Martial Held in Constantinople. Berlin: Verlag Der Tag, 1921.

: Balakian, Peter. The Burning Tigris: The Armenian Genocide and America’s Response. New York: HarperCollins, 2003.

: Dadrian, Vahakn N. The History of the Armenian Genocide: Ethnic Conflict from the Balkans to Anatolia to the Caucasus. Oxford: Berghahn Books, 1995.

: Kévorkian, Raymond. The Armenian Genocide: A Complete History. London: I.B. Tauris, 2011.

: Suny, Ronald Grigor. “They Can Live in the Desert but Nowhere Else”: A History of the Armenian Genocide. Princeton: Princeton University Press, 2015.

: Bloxham, Donald. The Great Game of Genocide: Imperialism, Nationalism, and the Destruction of the Ottoman Armenians. Oxford: Oxford University Press, 2005.

: Göçek, Fatma Müge. Denial of Violence: Ottoman Past, Turkish Present, and Collective Violence against the Armenians, 1789-2009. Oxford: Oxford University Press, 2014.

: Power, Samantha. “A Problem from Hell”: America and the Age of Genocide. New York: Basic Books, 2002.

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