Moderne Sagen – Alligatoren in der Kanalisation

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In den Schatten unserer Städte flüstern die Stimmen der Vergangenheit, erzählen Geschichten, die das Blut in den Adern gefrieren lassen. Urbane Legenden, gewoben aus Gerüchten und Halbwahrheiten, schleichen sich in unsere Gedanken ein und hinterlassen ein Echo des Zweifels. Sind es nur Märchen, erfunden um uns zu erschrecken, oder verbirgt sich in ihnen ein Körnchen Wahrheit? Dieser Artikel lädt dich ein, tief in die dunkle Welt der urbanen Mythen einzutauchen, wo das Unmögliche auf die Realität trifft und das Grauen einen Namen bekommt.

Stellen Sie sich vor, Sie spazieren durch die Straßen von New York City und plötzlich sehen Sie etwas Großes und Grünliches aus einem Gullydeckel hervorlugen. Sie trauen Ihren Augen nicht: Ist das etwa ein Alligator? Wie ist er da hingekommen? Und gibt es noch mehr von ihnen im Untergrund der Metropole?

Dieses Szenario mag wie ein Horrorfilm klingen, aber es ist eine der bekanntesten und verbreitetsten urbanen Legenden der Welt: Die Geschichte von den Alligatoren in der Kanalisation. Seit Jahrzehnten kursieren Gerüchte, dass diese Reptilien in den dunklen und feuchten Abwasserkanälen von New York und anderen Großstädten leben, nachdem sie von ihren Besitzern ausgesetzt wurden oder aus Zoos entkommen sind. Doch wie viel Wahrheit steckt hinter dieser modernen Sage? Und wie ist sie überhaupt entstanden?

Die Entstehung des Mythos

Die Ursprünge der Legende von den Kanalligatoren sind nicht ganz klar, aber es gibt einige Hinweise, die auf die 1930er Jahre deuten. Damals war es in Mode, exotische Tiere als Haustiere zu halten, und einige Menschen brachten Baby-Alligatoren aus südlichen Bundesstaaten wie Florida oder Louisiana nach New York. Diese waren zunächst niedlich und harmlos, aber sie wuchsen schnell und wurden zu einer Gefahr für ihre Besitzer und die Nachbarschaft. Um sich ihrer zu entledigen, sollen einige Menschen sie einfach die Toilette heruntergespült oder in die Kanalisation geworfen haben. Dort sollen sie dann überlebt, sich vermehrt und angepasst haben.

Diese Theorie wurde durch einige Zeitungsberichte gestützt, die von Alligator-Sichtungen in New York berichteten. Zum Beispiel schrieb die New York Times am 10. Februar 1935, dass eine Gruppe von Teenagern einen 2,5 Meter langen Alligator aus einem Gully in Harlem gezogen und erschlagen hatte. Der Artikel behauptete, dass das Tier aus Florida stammte und von einem Zirkus oder einem Tierhändler ausgesetzt worden war. Ein weiterer Bericht vom 21. März 1937 erzählte von einem Alligator, der im Bronx River gefangen wurde. Solche Meldungen erregten die Aufmerksamkeit und die Fantasie der Öffentlichkeit und machten die Legende populär.

Die Kritik an der Legende

Obwohl die Legende von den Kanalligatoren viele Anhänger hat, gibt es auch viele Zweifler, die sie für unwahrscheinlich oder unmöglich halten. Sie argumentieren, dass die Kanalisation kein geeigneter Lebensraum für Reptilien ist, da diese Sonnenlicht benötigen, um sich aufzuwärmen und Energie zu tanken, Kälte und kaltes Wasser scheuen (auch wenn es in der Kanalisation wärmer ist als im Freien, sind die Temperaturen doch vergleichsweise niedrig) und Räuber und keine Aasfresser sind. Abgesehen von Ratten gibt es in der Kanalisation aber wenig Beute. Zudem ist das Abwasser stark verschmutzt und enthält neben Fäkalien auch weitere (Gift-)Stoffe, die der Gesundheit des Tieres auf längere Sicht nicht zuträglich wären.

Auch wenn es schon einige Fälle mit Reptilien im Kanal gab, halten Fachleute die Geschichten nur für Legenden. Der Biologe und Autor Robert T. Bakker sagte zum Beispiel: “Es ist physiologisch unmöglich, dass Alligatoren in der Kanalisation überleben. Sie würden erfrieren oder verhungern.” Der Zoologe und Autor David A. Ebert meinte: “Die Legende von den Kanalligatoren ist eine der hartnäckigsten und weitverbreitetsten urbanen Legenden, aber sie ist völlig falsch. Es gibt keine Beweise dafür, dass Alligatoren jemals in der Kanalisation gelebt haben.”

Die bekannten Fälle von Reptilien im Kanal

Trotz der Kritik an der Legende gibt es immer wieder Berichte von Reptilien, die im Kanal oder in anderen Gewässern gefunden werden. Meistens handelt es sich dabei um einzelne Tiere, die ausgesetzt oder entkommen sind und nicht lange überleben. Zum Beispiel wurde 2015 ein kleiner Alligator in einem Gully in der Bronx entdeckt, der vermutlich von seinem Besitzer ausgesetzt wurde. Er wurde von der Polizei eingefangen und in ein Tierheim gebracht.

2001 wurde ein Kaiman in einem Teich in Central Park gesichtet, der ebenfalls von seinem Besitzer ausgesetzt worden war. Er wurde von einem Tierfänger gefangen und in einen Zoo gebracht. 2010 wurde ein weiterer Kaiman in einem Fluss in Brooklyn gefunden, der von einem Fischer gefangen und an die Behörden übergeben wurde.

In einigen Fällen wurden auch Reptilien in der Kanalisation gefunden, die aber nicht aus New York stammten. Zum Beispiel wurde 1984 ein 60 Zentimeter langes Nilkrokodil in der Pariser Kanalisation entdeckt, das unter dem Quai de la Mégisserie gefangen wurde. Es ist nicht bekannt, wie es dorthin kam, aber es wird vermutet, dass es aus einem nahegelegenen Tierladen stammte. Das Tier wurde in ein Aquarium gebracht, wo es noch heute lebt. In Sydney wurde 2000 eine Schildkröte in der Kanalisation gefunden, die möglicherweise aus einem Reptilienpark entkommen war. Sie wurde in einen Zoo gebracht, wo sie starb. In Gaza wurde 2012 ein 1,70 Meter langes Krokodil in der Kanalisation gefangen, das zwei Jahre zuvor aus einem Zoo entkommen war. Es wurde in einen anderen Zoo gebracht, wo es ebenfalls starb.

Die künstlerische Verarbeitung der Legende

Die Legende von den Kanalligatoren hat nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch viele Künstler inspiriert, die sie in verschiedenen Medien verarbeitet haben. Zum Beispiel gibt es mehrere Filme, die sich mit dem Thema befassen, wie “Die Krokodile” (1950), “Alligator” (1980), “Alligator II – Die Mutation” (1991), “Killer Crocodile” (1989) oder “Lake Placid” (1999). Auch in der Literatur gibt es einige Werke, die die Legende aufgreifen, wie “The Great Alligator Hunt” (1977) von Robert Daley, “The Lizard King” (1985) von Frank Lauria oder “Sewer, Gas & Electric” (1997) von Matt Ruff. In der Musik gibt es zum Beispiel das Lied “Alligator in the Sewer” (1988) von The Toasters oder das Album “Crocodiles in the Sewer” (2017) von The Crocodiles. Und in der Popkultur gibt es die bekannten Figuren der “Teenage Mutant Ninja Turtles” (1984), die angeblich ebenfalls in der Kanalisation von New York leben.

Die Legende von den Kanalligatoren ist also ein faszinierendes Phänomen, das die Vorstellungskraft vieler Menschen anregt und zu kreativen Ausdrucksformen führt. Sie ist aber auch ein Beispiel dafür, wie moderne Sagen entstehen und sich verbreiten, und wie sie mit der Realität in Konflikt geraten. Ob es nun wirklich Alligatoren in der Kanalisation gibt oder nicht, bleibt letztlich eine offene Frage, die jeder für sich selbst beantworten muss.

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