Weil sie Deutsche sind  – der Brünner Todesmarsch vom 31.05.1945

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Als das Deutsche Reich am Ende des Zweiten Weltkrieges zusammenbrach, war es für die Deutsche Wehrmacht ein verzweifelter Kampf ums Überleben. Für die Zivilbevölkerung war es der Beginn eines Albtraums, denn sie wurde plötzlich zum Freiwild für die Rachegelüste des Feindes. Dieser hasste sie so sehr, dass er ihnen kein Erbarmen zeigte. Was die Deutschen in jenen Tagen erleiden mussten, war grausamer als alles, was sie sich je hätten vorstellen können.

Der Brünner Todesmarsch war einer der schlimmsten Akte der Gewalt gegen die deutschsprachige Bevölkerung in Mähren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Er begann am 31. Mai 1945, dem Fronleichnamstag, in Brünn (heute Brno) und führte über Pohořelice (Pohrlitz) über die Grenze ins sowjetisch besetzte Niederösterreich. Etwa 27.000 Menschen, vor allem Frauen, Kinder und alte Männer, mussten ihre Heimat verlassen und einen qualvollen Weg von rund 55 Kilometern zurücklegen. Mehr als 5.000 von ihnen starben an Hunger, Durst, Erschöpfung, Krankheit oder wurden von tschechischen Milizionären ermordet.

Die Vorgeschichte

Die deutschsprachigen Altösterreicher, auch Sudetendeutsche genannt, lebten seit Jahrhunderten in den Gebieten von Böhmen und Mähren, die bis 1918 zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden diese Gebiete Teil der neu gegründeten Tschechoslowakei, in der die Deutschen eine Minderheit bildeten. Die Spannungen zwischen den Volksgruppen nahmen zu, vor allem nach dem Münchner Abkommen von 1938, das die Abtretung des Sudetenlandes an das nationalsozialistische Deutschland vorsah. Die Deutschen begrüßten den Anschluss an das Reich, während die Tschechen sich verraten fühlten.

Während des Zweiten Weltkriegs kam es zu weiteren Gebietsveränderungen und Repressionen gegen die tschechische Bevölkerung durch die deutschen Besatzer. Nach dem Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich im Mai 1942 wurden als Vergeltung die Dörfer Lidice und Ležáky niedergebrannt und ihre Bewohner ermordet oder deportiert. Die Tschechen entwickelten einen tiefen Hass gegen die Deutschen und sehnten sich nach der Befreiung durch die Alliierten.

Im Mai 1945 rückten sowjetische Truppen von Osten und amerikanische Truppen von Westen in das Gebiet der Tschechoslowakei vor. Am 8. Mai 1945 kapitulierte das Deutsche Reich bedingungslos. Die Tschechen feierten den Sieg über den Faschismus und begrüßten ihre Befreier. Gleichzeitig begannen sie jedoch auch, Rache an den Deutschen zu nehmen, die sie für ihre Leiden verantwortlich machten.

Der Marsch

Am 31. Mai 1945 wurden alle deutschsprachigen Einwohner von Brünn beim Augustinerkloster St. Thomas in Alt-Brünn zusammengetrieben. Sie durften nur das Nötigste mitnehmen und mussten eine weiße Armbinde mit einem “N” für “Nemec” (Deutscher) tragen. Sie glaubten zunächst, dass es sich um eine vorübergehende Maßnahme handelte, doch bald wurde ihnen klar, dass sie ihre Stadt für immer verlassen mussten.

Am nächsten Tag begann der Marsch Richtung österreichische Grenze unter der Bewachung von tschechischen Milizionären und sowjetischen Soldaten. Die Menschen wurden getrieben wie Vieh, ohne Rücksicht auf ihr Alter, Geschlecht oder Gesundheitszustand. Sie erhielten kaum Wasser oder Nahrung und mussten bei brütender Hitze oder strömendem Regen weiterlaufen. Wer stehen blieb oder zurückfiel, wurde geschlagen, getreten oder erschossen. Viele brachen am Straßenrand zusammen oder starben in den Armen ihrer Angehörigen.

Der Marsch war ein Albtraum voller Grausamkeiten und Schrecken. Die Zeugen berichten von unvorstellbaren Szenen: Wie eine Mutter ihr Baby in einen Fluss geworfen wurde, wie ein Vater seine Tochter vor den Augen seiner Frau vergewaltigt wurde, wie ein Kind seinen Großvater mit dem Gewehrkolben erschlagen sah. Die Leichen der Opfer blieben liegen oder wurden in Massengräbern verscharrt. Die Überlebenden verloren jeden Funken Hoffnung und Würde.

Nach etwa drei Tagen erreichten die Vertriebenen die Grenze zu Niederösterreich, die jedoch zunächst von den sowjetischen Behörden geschlossen wurde. Sie wurden in Pohořelice in Lagerhallen für Getreide eingesperrt, wo sie weiterhin Hunger und Durst litten. Außerdem brachen Seuchen wie Ruhr und Typhus aus, die weitere Menschen dahinrafften.

Erst nach längerem Zögern wurde die Grenze im Juni 1945 geöffnet und die Vertriebenen durften das österreichische Staatsgebiet betreten. Doch auch dort setzte sich das Sterben der kranken und unterernährten Menschen fort. Ungefähr 1.000 von ihnen fanden auf österreichischen Friedhöfen ihre letzte Ruhestätte.

Die Folgen

Der Brünner Todesmarsch war Teil der kollektiven Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei, die auf den sogenannten Beneš-Dekreten basierte. Diese Dekrete erklärten die Deutschen und Ungarn zu “Volksfeinden” und entzogen ihnen ihre Staatsbürgerschaft und ihr Eigentum. Zwischen 1945 und 1946 wurden etwa drei Millionen Deutsche aus der Tschechoslowakei vertrieben oder ausgesiedelt, wobei schätzungsweise 15.000 bis 30.000 Menschen ums Leben kamen.

Die Vertreibung der Deutschen hatte nicht nur humanitäre, sondern auch politische, wirtschaftliche und kulturelle Folgen für die Tschechoslowakei. Sie verlor einen großen Teil ihrer Bevölkerung und ihres Territoriums, sowie viele qualifizierte Arbeitskräfte und historische Denkmäler. Die Beziehungen zu Deutschland und Österreich wurden nachhaltig belastet und das Trauma der Gewalt prägte das kollektive Gedächtnis beider Seiten.

Die Aufarbeitung

Die Aufarbeitung des Brünner Todesmarsches war lange Zeit ein Tabu in der Tschechoslowakei und später in der Tschechischen Republik. Die offizielle Geschichtsschreibung verharmloste oder ignorierte die Vertreibung der Deutschen oder rechtfertigte sie als notwendige Vergeltung für die nationalsozialistischen Verbrechen. Die Opfer wurden vergessen oder verleugnet, die Täter wurden nicht zur Rechenschaft gezogen oder gar geehrt.

Erst nach dem Ende des Kommunismus im Jahr 1989 begann ein langsamer Prozess der Anerkennung und Versöhnung zwischen Tschechen und Deutschen. Es gab erste Kontakte zwischen den Vertriebenen und ihren ehemaligen Nachbarn, sowie Initiativen zur Erinnerung und zum Gedenken an die Opfer des Marsches. Im Jahr 1995 entschuldigte sich der damalige tschechische Präsident Václav Havel für das Unrecht, das den Deutschen widerfahren war, und bat um Vergebung. Im Jahr 2005 erklärten die Regierungen von Tschechien und Deutschland in einer gemeinsamen Erklärung, dass sie die Vertreibung der Deutschen als Unrecht anerkennen und sich für eine friedliche Zukunft in Europa einsetzen wollen.

Der Brünner Todesmarsch bleibt jedoch bis heute ein sensibles Thema, das immer wieder zu Spannungen und Kontroversen führt. Es gibt noch immer Stimmen, die die Vertreibung der Deutschen rechtfertigen oder leugnen, sowie Stimmen, die eine Revision der Beneš-Dekrete oder eine Entschädigung für die Vertriebenen fordern. Es gibt auch noch immer offene Fragen nach der genauen Zahl der Opfer, der Identität der Täter und der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen.

Der Brünner Todesmarsch ist ein dunkles Kapitel in der Geschichte Europas, das nicht vergessen werden darf. Er zeigt, wie Hass und Gewalt unschuldige Menschen zu Opfern machen können, aber auch wie Versöhnung und Vergebung möglich sind.


Zeitzeugenberichte

[…]” Am späten Abend wird die Parole ausgegeben: „Všechny nemci ven!“ „Alle Deutschen raus!“ Trupps bewaffneter Arbeiter und Partisanen eilen von Haus zu Haus, die Gewehrkolben donnern an die Türen: „Packt das Wichtigste, ihr müsst fort! In zwei Stunden müsst ihr auf dem Hauptplatz gestellt sein. 15 Kilo Gepäck, mehr nicht!“ Es handelt sich vornehmlich um Frauen, Kinder und alte Menschen, wie die Augenzeugen berichten. Die wehrfähigen Männer sind noch nicht heimgekehrt oder gefallen oder in Kriegsgefangenschaft.”[…]

Jirina Borecka 

[…]”Die Männer kamen nachts. Sie rissen Helena Brislinger von ihrer Mutter weg und schleppten sie in einen Taubenstall. Auf dem stinkenden Boden stellte sich einer auf die Hände der 14-Jährigen, die anderen fielen nacheinander über sie her. Damit Helena nicht schreien konnte, hatten ihr die Männer ein Stück Holz in den Mund gedrückt.

„Wir sind den ganzen Tag marschiert. Es war schrecklich. Wir waren alle total erschöpft. Irgendwann haben wir in einer Holzbaracke auf dem nackten Boden gelagert. Ich erinnere mich – viele Kinder sind dort gestorben.“[…]

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