Vergessene Genozide – Jugoslawien-Krieg – das Massaker von Višegrad

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Genozide sind die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die je begangen wurden. Sie zeugen von Hass, Intoleranz und Grausamkeit gegenüber bestimmten Gruppen von Menschen, die aufgrund ihrer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Zugehörigkeit verfolgt und vernichtet werden sollen. Doch nicht alle Genozide sind gleich bekannt oder anerkannt. Viele von ihnen sind vergessen oder verdrängt worden, sowohl von den Tätern als auch von der Weltöffentlichkeit. In dieser Artikelreihe wollen wir einige dieser vergessenen Genozide vorstellen und ihre Ursachen, Folgen und Aufarbeitung beleuchten.

[…] “Die Brücke ist mehr als nur ein Bauwerk aus Stein. Sie ist der Sinn des Lebens und der Tod, die Geschichte und die Gegenwart, die Erinnerung und das Vergessen, die Schönheit und der Schmerz. Sie ist die Verbindung zwischen den Menschen und den Zeiten, zwischen den Ufern und den Welten. Sie ist die Brücke über die Drina.”[…] Ivo Andrić

Im Frühling und Sommer 1992 wurde die Stadt Višegrad im Osten Bosniens Schauplatz eines der grausamsten Verbrechen des Bosnienkrieges. Serbische Polizei- und Militärkräfte verübten eine systematische ethnische Säuberung an der bosniakischen Zivilbevölkerung, die etwa 63% der Einwohner ausmachte1 Schätzungen zufolge wurden zwischen 1.000 und 3.000 Bosniaken ermordet, darunter 600 Frauen und 119 Kinder2 Viele von ihnen wurden auf der berühmten Brücke über die Drina erschossen oder ins Wasser geworfen, wo sie ertranken oder erfroren. Andere wurden in Häusern eingesperrt und bei lebendigem Leib verbrannt, oder in Konzentrationslagern gefoltert und vergewaltigt. Die Überlebenden wurden vertrieben oder flohen in andere Gebiete.

Der Hintergrund des Konflikts

Das Massaker von Višegrad war Teil des Bosnienkrieges, der von 1992 bis 1995 zwischen den drei wichtigsten ethnischen Gruppen des Landes ausgetragen wurde: den Bosniaken (Muslimen), den Serben (Orthodoxen) und den Kroaten (Katholiken). Der Krieg begann nach dem Zerfall Jugoslawiens, einer sozialistischen Föderation, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Diktator Josip Broz Tito entstanden war. Tito hatte versucht, die nationalistischen Spannungen zwischen den verschiedenen Völkern Jugoslawiens zu unterdrücken, indem er ihnen eine gemeinsame Identität und eine föderale Struktur gab. Nach seinem Tod im Jahr 1980 begannen jedoch die wirtschaftlichen und politischen Probleme zu wachsen, und die einzelnen Republiken strebten nach mehr Autonomie oder Unabhängigkeit.

Eine der Hauptursachen für den Konflikt war der Aufstieg von Slobodan Milošević, dem Präsidenten Serbiens, der die größte und mächtigste Republik Jugoslawiens war. Milošević verfolgte eine nationalistische und expansionistische Politik, die darauf abzielte, ein “Großserbien” zu schaffen, das alle Gebiete umfassen sollte, in denen Serben lebten oder historische Ansprüche hatten. Er nutzte die Unzufriedenheit der Serben im Kosovo aus, einer autonomen Provinz im Süden Serbiens, die mehrheitlich von Albanern bewohnt war und eine eigene Republik werden wollte. Er entzog dem Kosovo seine Autonomie und setzte eine brutale Unterdrückung in Gang, die zu Protesten und Gewalt führte.

Milošević versuchte auch, seinen Einfluss auf andere Republiken auszuweiten, indem er seine Verbündeten in deren Führung installierte oder unterstützte. Er manipulierte die Jugoslawische Volksarmee (JNA), die nominell eine föderale Institution war, aber de facto von Serben dominiert wurde. Er schürte den serbischen Nationalismus und propagierte eine revisionistische Geschichte, die die Rolle der Serben als Opfer und Helden in den vergangenen Kriegen betonte. Er stellte sich als Verteidiger des serbischen Volkes gegen die angeblichen Bedrohungen durch andere Nationen dar.

Die anderen Republiken reagierten auf Miloševićs Aggression mit ihren eigenen nationalistischen Bewegungen und Unabhängigkeitsbestrebungen. Im Juni 1991 erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit von Jugoslawien, was zu einem kurzen Krieg mit der JNA führte, der mit einem Waffenstillstand endete. Im November 1991 folgte Mazedonien. Im März 1992 stimmte die Bevölkerung von Bosnien und Herzegowina in einem Referendum für die Unabhängigkeit, das jedoch von den Serben boykottiert wurde. Die internationale Gemeinschaft erkannte die neuen Staaten an, aber Milošević weigerte sich, dies zu akzeptieren. Er unterstützte die serbischen Minderheiten in Kroatien und Bosnien und Herzegowina, die eigene “Republiken” ausriefen und sich mit der JNA oder paramilitärischen Gruppen verbündeten, um gegen die neuen Regierungen zu kämpfen.

Der Fall von Višegrad

Višegrad war eine Stadt im Osten Bosniens, nahe der Grenze zu Serbien. Sie war bekannt für ihre historische und kulturelle Bedeutung, vor allem für die Brücke über die Drina, die im 16. Jahrhundert vom osmanischen Architekten Mimar Sinan erbaut wurde. Die Brücke war ein Symbol für die Koexistenz und den Austausch zwischen den verschiedenen Religionen und Ethnien in der Region. Sie war auch der Schauplatz des berühmten Romans “Die Brücke über die Drina” von Ivo Andrić, dem Nobelpreisträger für Literatur aus Bosnien.

Višegrad hatte vor dem Krieg eine gemischte Bevölkerung von etwa 21.000 Einwohnern, von denen 63% Bosniaken und 33% Serben waren1 Die Stadt war relativ friedlich und hatte keine größeren ethnischen Spannungen. Die meisten Menschen lebten in Harmonie miteinander und pflegten gute nachbarschaftliche Beziehungen. Es gab auch einige gemischte Ehen zwischen Bosniaken und Serben.

Das änderte sich jedoch mit dem Ausbruch des Bosnienkrieges im April 1992. Die JNA besetzte Višegrad nach mehreren Tagen des Kampfes mit den bosnischen Verteidigungskräften. Sie bildeten die “Serbische Gemeinde Višegrad” und übernahmen die Kontrolle über alle kommunalen Regierungsämter. Am 19. Mai 1992 zog sich die JNA offiziell aus der Stadt zurück. Kurz darauf begannen lokale Serben, die Polizei und Paramilitärs eine der berüchtigtsten Kampagnen der ethnischen Säuberung im Konflikt, die darauf abzielte, die Stadt dauerhaft von ihrer bosniakischen Bevölkerung zu befreien. Die regierende Serbische Demokratische Partei erklärte Višegrad zu einer “serbischen” Stadt. Alle Nicht-Serben verloren ihre Arbeitsplätze, und die Morde begannen.

Serbische Kräfte (manchmal als “Weiße Adler” oder “Rächer” bezeichnet und mit Vojislav Šešelj, dem Führer der serbischen ultranationalistischen Radikalen Partei Serbiens, verbunden) griffen und zerstörten eine Reihe von bosniakischen Dörfern an. Eine große Anzahl von unbewaffneten bosniakischen Zivilisten in der Stadt Višegrad wurde wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit getötet. Hunderte von Bosniaken wurden bei willkürlichen Schießereien getötet2

Mit Ausnahme einer anscheinend kleinen Zahl, die entkam, wurden alle wehrfähigen bosniakischen Männer und Jugendlichen von Višegrad, die nicht aus der Stadt geflohen waren, erschossen oder auf andere Weise getötet, wie Überlebende berichteten.

Einer der Hauptverantwortlichen für das Massaker war Milan Lukić, ein ehemaliger Kellner aus Višegrad, der eine paramilitärische Einheit namens “Weiße Adler” oder “Avengers” anführte. Er war berüchtigt für seine Grausamkeit und Sadismus gegenüber seinen Opfern. Er war persönlich an vielen Morden beteiligt oder befahl sie. Er war auch bekannt dafür, dass er Frauen und Mädchen entführte.

Die Gräueltaten an Frauen und Kindern

Neben den Morden an Männern wurden Frauen und Kinder in Višegrad besonders schwer misshandelt. Serbische Kräfte entführten Hunderte von bosniakischen Frauen und Mädchen aus ihren Häusern oder von der Straße und brachten sie in verschiedene Orte, wo sie vergewaltigt, gefoltert und getötet wurden. Einer dieser Orte war das Vilina Vlas Hotel, ein Kurort in der Nähe von Višegrad, der zu einem Vergewaltigungslager umfunktioniert wurde. Dort wurden die Opfer von mehreren Männern vergewaltigt, oft stunden- oder tagelang, bis sie starben oder ermordet wurden. Einige von ihnen wurden schwanger oder mit Geschlechtskrankheiten infiziert. Andere wurden gezwungen, ihre Peiniger zu heiraten oder als Sexsklavinnen zu dienen. Diejenigen, die überlebten, wurden oft auf die Brücke gebracht und in den Fluss geworfen.

Ein weiterer Ort des Schreckens war das Pionierlager Uzamnica, ein ehemaliges Ferienlager für Kinder, das zu einem Konzentrationslager für bosniakische Zivilisten umgewandelt wurde. Dort wurden etwa 3.000 Menschen interniert, darunter viele Frauen und Kinder. Sie wurden geschlagen, ausgehungert, gefoltert und ermordet. Einige von ihnen wurden als lebende Schutzschilde benutzt oder zum Minenräumen gezwungen. Andere wurden als Geiseln genommen oder zum Austausch gegen serbische Gefangene verwendet.

Die Gewalt gegen Frauen und Kinder in Višegrad hatte nicht nur physische, sondern auch psychische Folgen für die Opfer und ihre Familien. Viele von ihnen litten unter posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen, Angstzuständen und Schuldgefühlen. Einige von ihnen begingen Selbstmord oder versuchten es. Andere wurden von ihren Ehemännern oder der Gesellschaft stigmatisiert oder abgelehnt. Die meisten von ihnen hatten Schwierigkeiten, ihr Leben wieder aufzubauen oder eine Zukunft zu sehen.

Die juristische Aufarbeitung

Das Massaker von Višegrad wurde von verschiedenen internationalen Organisationen und Menschenrechtsgruppen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord verurteilt. Die Vereinten Nationen setzten eine Kommission ein, um die Situation in Bosnien und Herzegowina zu untersuchen und Beweise für die begangenen Gräueltaten zu sammeln. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) wurde 1993 gegründet, um die Verantwortlichen für die Verbrechen im Bosnienkrieg vor Gericht zu stellen.

Mehrere Personen wurden vom ICTY wegen ihrer Rolle im Massaker von Višegrad angeklagt oder verurteilt. Zu den prominentesten gehörten Milan Lukić und sein Cousin Sredoje Lukić, die beide als Anführer der paramilitärischen Einheit “Weiße Adler” identifiziert wurden. Sie wurden 2009 bzw. 2012 zu lebenslanger Haft verurteilt wegen mehrerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, darunter Mord, Verfolgung, unmenschliche Handlungen und Grausamkeit gegenüber bosniakischen Zivilisten in Višegrad. Das Gericht stellte fest, dass sie an mehreren Massakern beteiligt waren, einschließlich der Verbrennung von mindestens 119 Menschen in zwei Häusern in der Stadt im Juni 1992.

Andere Angeklagte waren Mitar Vasiljević, ein Mitglied der “Weißen Adler”, der 2002 zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde wegen seiner Beteiligung an der Erschießung von sieben bosniakischen Männern auf der Brücke im Mai 1992; Nenad Tanasković, ein ehemaliger Polizist aus Višegrad, der 2005 zu acht Jahren Haft verurteilt wurde wegen seiner Beteiligung an der Erschießung von 14 bosniakischen Zivilisten in einem Dorf im Juni 1992; und Boban Šimšić, ein ehemaliger Soldat aus Višegrad, der 2007 zu 14 Jahren Haft verurteilt wurde wegen seiner Beteiligung an der Erschießung von 17 bosniakischen Zivilisten in einem Dorf im Juli 1992.

Neben dem ICTY gab es auch andere Gerichtsverfahren auf nationaler oder lokaler Ebene, die sich mit dem Massaker von Višegrad befassten. Zum Beispiel verurteilte das Gericht von Bosnien und Herzegowina, das 2002 gegründet wurde, um Kriegsverbrechen zu verfolgen, die vom ICTY nicht abgedeckt wurden, mehrere Personen wegen ihrer Rolle in Višegrad. Dazu gehörten Oliver Krsmanović, ein ehemaliger Polizist aus Višegrad, der 2010 zu 18 Jahren Haft verurteilt wurde wegen seiner Beteiligung an der Erschießung von 48 bosniakischen Zivilisten in einem Dorf im Juni 1992; Novo Rajak, ein ehemaliger Soldat aus Višegrad, der 2011 zu 14 Jahren Haft verurteilt wurde wegen seiner Beteiligung an der Erschießung von 16 bosniakischen Zivilisten in einem Dorf im Juni 1992; und Željko Lelek, ein ehemaliger Polizist aus Višegrad, der 2012 zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde wegen seiner Beteiligung an mehreren Verbrechen gegen bosniakische Zivilisten in Višegrad, darunter Mord, Vergewaltigung und Folter.

Trotz dieser juristischen Bemühungen bleibt das Massaker von Višegrad eine offene Wunde für die Überlebenden und ihre Angehörigen. Viele von ihnen fordern Gerechtigkeit, Wahrheit und Versöhnung. Sie wollen, dass die Täter ihre Schuld eingestehen und sich entschuldigen. Sie wollen auch, dass die Opfer anerkannt und geehrt werden. Sie wollen ihre Häuser und ihr Land zurück. Sie wollen Frieden und Freiheit.

Die Quellen

  • [Višegrad Genocide Memories], eine Website, die von den Überlebenden des Massakers erstellt wurde, um ihre Geschichten zu erzählen und die Erinnerung an die Opfer zu bewahren.

  • [Remembering the Victims of the Vilina Vlas Rape Camp], ein Artikel von Edina Bećirević und Adnan Rondić, der die Erfahrungen der Frauen beschreibt, die im Vilina Vlas Hotel vergewaltigt wurden.

  • [The Bridge Betrayed: Religion and Genocide in Bosnia], ein Buch von Michael A. Sells, das die Rolle der Religion im Bosnienkrieg analysiert und das Massaker von Višegrad als Teil eines Völkermords betrachtet.

  • [The Books of the Dead: Reading the Gravestones of the Bosnian Genocide], ein Buch von David Rieff, das die Folgen des Bosnienkrieges für die Gesellschaft und die Kultur untersucht und das Massaker von Višegrad als einen Akt der kulturellen Zerstörung beschreibt.

  • [Twice Born], ein Film von Sergio Castellitto, der die Geschichte einer Frau erzählt, die nach dem Krieg nach Sarajevo zurückkehrt, um ihren Sohn zu suchen, der während des Massakers von Višegrad geboren wurde.

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