Katastrophen der Menschheit – Untergang der Estonia 28.09.1994

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Katastrophen sind keine Zufälle. Sie sind das Ergebnis einer fatalen Kette von Ereignissen, die durch menschliches und technisches Versagen ausgelöst werden. Oft sind es kleine Fehler oder Nachlässigkeiten, die sich zu einer großen Krise aufschaukeln. Manchmal sind es auch bewusste Entscheidungen oder Risiken, die sich als fatal erweisen. In jedem Fall sind Katastrophen eine Herausforderung für die Menschheit, aus ihnen zu lernen und sie zu vermeiden. Denn Katastrophen haben nicht nur materielle Folgen, sondern auch emotionale und soziale. Sie können ganze Lebenswelten zerstören und tiefe Traumata hinterlassen.

Am 28. September 1994 ereignete sich eines der schwersten Schiffsunglücke in der europäischen Geschichte. Die Fähre Estonia, die von Tallinn nach Stockholm unterwegs war, sank in der Ostsee, nachdem ihre Bugklappe bei schwerem Seegang abgerissen wurde. Von den 989 Menschen an Bord überlebten nur 137 die Katastrophe. Die meisten Opfer ertranken im untergehenden Schiff oder erfroren im eiskalten Wasser oder auf den Rettungsinseln. Die Ursachen und Umstände des Unglücks sind bis heute umstritten und werfen viele offene Fragen auf.

Die Estonia: Eine Fähre mit Geschichte

Die Estonia war eine Roll-on-Roll-off-Fähre, die 1980 von der Meyer Werft in Papenburg gebaut wurde. Sie war 157 Meter lang, 24 Meter breit und hatte eine Kapazität von 2000 Passagieren und 450 Fahrzeugen. Sie fuhr zunächst unter dem Namen Viking Sally für die finnische Reederei Viking Line, bevor sie 1990 an die estnische Reederei Estline verkauft wurde. Sie wurde dann in Estonia umbenannt und fuhr unter estnischer und schwedischer Flagge zwischen Tallinn und Stockholm. Die Estonia war ein Symbol für die Unabhängigkeit Estlands, das 1991 aus der Sowjetunion ausgetreten war. Sie war auch ein beliebtes Transportmittel für Geschäftsleute, Touristen und Studenten, die zwischen den beiden Hauptstädten reisten.

Die Unglücksnacht: Ein Kampf ums Überleben

Am Abend des 27. September 1994 legte die Estonia in Tallinn ab und nahm Kurs auf Stockholm. An Bord befanden sich 803 Passagiere und 186 Besatzungsmitglieder, die meisten aus Estland, Schweden und Finnland. Das Wetter war stürmisch, mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 20 Metern pro Sekunde und Wellenhöhen von bis zu sechs Metern. Gegen Mitternacht muss Wasser durch die Bugklappe der Fähre eingedrungen sein, die sich in Höhe der Wasserlinie befand. Die Bugklappe war eine große Metalltür, die sich öffnete, um die Fahrzeuge ein- und ausfahren zu lassen. Die Bugklappe war mit einem Bugvisier gesichert, das wie ein Schild über die Bugklappe geklappt wurde. Das Bugvisier sollte verhindern, dass Wasser in das Schiff eindringt, wenn die Bugklappe geschlossen ist. Doch in dieser Nacht versagte das Sicherungssystem des Bugvisiers, das aus zwei Hydraulikzylindern und zwei Verriegelungen bestand. Das Bugvisier wurde durch die starken Wellen losgerissen und riss dabei die Bugklappe mit sich. Das Wasser strömte nun ungehindert in das Schiff und füllte schnell das Autodeck, das sich über die gesamte Länge des Schiffes erstreckte.

Der Kapitän der Estonia, Arvo Andresson, bemerkte den Wassereinbruch und versuchte, das Schiff zu stoppen und zu stabilisieren. Er gab auch den Befehl, die wasserdichten Türen zu schließen, um das Eindringen des Wassers in die anderen Decks zu verhindern. Doch es war zu spät. Das Schiff begann, sich stark nach Steuerbord zu neigen, und verlor an Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit. Die Passagiere, die meisten von ihnen im Schlaf überrascht, gerieten in Panik und versuchten, sich zu den Rettungsmitteln zu begeben. Doch die Schieflage des Schiffes erschwerte die Flucht. Viele Menschen wurden von herabfallenden Gegenständen getroffen oder in den Gängen eingequetscht. Die Rettungswesten waren schwer zu finden oder zu klein für Erwachsene. Die Rettungsboote konnten nicht abgesenkt werden, weil sie auf der hohen Seite des Schiffes hingen oder von den Wellen weggerissen wurden. Die Rettungsinseln waren ebenfalls schwer zu erreichen oder zu überfüllt. Die Besatzung war überfordert und konnte den Passagieren kaum helfen. Viele Menschen sprangen ins Wasser, in der Hoffnung, von anderen Schiffen oder Hubschraubern gerettet zu werden.

Gegen 1.22 Uhr sendete die Estonia einen Notruf aus, der von mehreren Schiffen in der Nähe empfangen wurde. Die Estonia befand sich etwa 35 Kilometer südwestlich der finnischen Insel Utö, in einem der meistbefahrenen Seegebiete der Ostsee. Das erste Schiff, das den Unglücksort erreichte, war die Mariella, eine Fähre der Viking Line, die etwa eine Stunde nach dem Notruf eintraf. Die Mariella begann, Überlebende aus dem Wasser zu ziehen, die sich an Wrackteilen oder Rettungsinseln festhielten. Doch die Rettungsaktion wurde durch den starken Wellengang, den Nebel und die Dunkelheit erschwert. Die Estonia war inzwischen vollständig untergegangen, mit den meisten Passagieren und Besatzungsmitgliedern an Bord. Die Überlebenden litten unter Unterkühlung, Schock und Verletzungen. Viele von ihnen starben, bevor sie an Land gebracht werden konnten. In den folgenden Tagen suchten zwölf Schiffe und 26 Hubschrauber aus verschiedenen Ländern nach weiteren Überlebenden, doch ohne Erfolg. Die letzte Überlebende, die gerettet wurde, war die estnische Sängerin Ewert Linder, die sich 18 Stunden lang an einer Rettungsinsel festgehalten hatte.

Die Folgen: Ein Trauma, das nicht vergeht

Die Katastrophe der Estonia schockierte ganz Europa und löste eine Welle der Trauer und Anteilnahme aus. Die Regierungen von Estland, Schweden und Finnland erklärten einen nationalen Trauertag und ordneten eine gemeinsame Untersuchung des Unglücks an. Die Untersuchung wurde von der Joint Accident Investigation Commission (JAIC) geleitet, die aus Vertretern der drei Länder sowie aus Großbritannien, Dänemark und Frankreich bestand. Die JAIC veröffentlichte ihren Abschlussbericht im Dezember 1997, in dem sie die abgerissene Bugklappe als Hauptursache für das Sinken der Estonia identifizierte. Die JAIC stellte auch fest, dass es Konstruktionsmängel, Wartungsfehler und Sicherheitslücken bei der Estonia gab, die zu dem Unglück beigetragen haben könnten. Die JAIC empfahl, die Sicherheitsstandards für Ro/Ro-Fähren zu verbessern und die Überlebenschancen bei Schiffsunfällen zu erhöhen.

Der Bericht der JAIC wurde jedoch von vielen Seiten kritisiert und angezweifelt. Einige Überlebende, Angehörige, Experten und Journalisten warfen der JAIC vor, wichtige Beweise zu ignorieren oder zu vertuschen, die auf andere mögliche Ursachen oder Umstände des Unglücks hindeuten könnten. Zum Beispiel wurde spekuliert, dass die Estonia eine Explosion an Bord hatte, die von einem Terroranschlag, einer Geheimdienstoperation oder einem Waffentransport ausgelöst wurde. Andere behaupteten, dass die Estonia absichtlich versenkt wurde, um Beweise zu vernichten oder Versicherungsbetrug zu begehen. Wieder andere vermuteten, dass die Rettungsaktion unzureichend oder verzögert war, um die Zahl der Überlebenden zu reduzieren oder die Identität der Opfer zu verschleiern. Diese Verschwörungstheorien wurden durch verschiedene Bücher, Filme, Dokumentationen und Websites verbreitet, die alternative Erklärungen oder Beweise für das Unglück anboten. Einige von ihnen forderten auch, das Wrack der Estonia zu bergen oder zu untersuchen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Die Regierungen von Estland, Schweden und Finnland lehnten jedoch eine Bergung oder Untersuchung des Wracks ab, mit der Begründung, dass es technisch zu schwierig, zu teuer und zu gefährlich sei. Sie erklärten auch, dass das Wrack der Estonia ein Friedhof sei, der aus Respekt vor den Toten unberührt bleiben solle.

Das Gedenken: Ein Streit um die Erinnerung

Die Katastrophe der Estonia hinterließ nicht nur ein Wrack auf dem Meeresgrund, sondern auch tiefe Wunden in den Herzen der Hinterbliebenen, der Überlebenden und der beteiligten Nationen. Die Trauer um die Verlorenen wurde begleitet von einem Streit um die angemessene Form des Gedenkens. Die Angehörigen der Opfer forderten eine würdige Bestattung ihrer Lieben, die sie identifizieren und besuchen konnten. Sie kritisierten das Abkommen von 1995, das das Wrack der Estonia zu einem Friedhof erklärte und jede Bergung oder Störung verbot.

Sie argumentierten, dass das Abkommen gegen das Seerecht und die Menschenrechte verstieß und dass es ihre religiösen und kulturellen Bedürfnisse missachtete. Sie verlangten auch eine Entschädigung von den Reedereien, den Werften und den Regierungen, die sie für das Unglück verantwortlich machten. Sie gründeten verschiedene Organisationen, wie die International Support Group Estonia (ISGE), die Swedish Estonia Association (SEA) oder die German Estonia Association (GEA), um ihre Forderungen zu vertreten und juristische Schritte einzuleiten.

Die Regierungen von Estland, Schweden und Finnland verteidigten jedoch ihre Entscheidung, das Wrack der Estonia unangetastet zu lassen, mit der Begründung, dass es die beste Möglichkeit sei, die Toten zu ehren und zu schützen. Sie wiesen auch die Forderungen nach einer Entschädigung zurück, indem sie sich auf die Haftungsbeschränkung der Reedereien beriefen oder die Klagen für unzulässig erklärten.

Sie errichteten stattdessen verschiedene Gedenkstätten an Land, um der Opfer zu gedenken. Die bekanntesten sind das Broken Line Monument in Tallinn, das Estonia Memorial in Stockholm und das Estonia Memorial in Helsinki. Diese Gedenkstätten bestehen aus Skulpturen, Namenstafeln, Kerzen oder Blumen, die an die Tragödie erinnern sollen. Sie werden regelmäßig von Angehörigen, Überlebenden, Politikern und Bürgern besucht, die ihre Anteilnahme und ihr Mitgefühl ausdrücken.

Die Zukunft: Eine Hoffnung auf Versöhnung

Die Katastrophe der Estonia ist nun fast 30 Jahre her, doch sie ist immer noch präsent in den Köpfen und Herzen vieler Menschen. Die Estonia ist nicht nur ein gesunkenes Schiff, sondern auch ein Symbol für die historischen, politischen und kulturellen Verbindungen zwischen den Ostsee-Anrainern. Die Estonia ist auch ein Zeugnis für die menschliche Stärke, den Überlebenswillen und die Solidarität in Zeiten der Not. Die Estonia ist schließlich eine Herausforderung für die Suche nach der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Versöhnung in einer komplexen und konfliktreichen Welt.

Die Estonia verdient es, nicht vergessen zu werden, sondern erforscht, verstanden und gewürdigt zu werden. Die Estonia verdient es, nicht als ein Grab, sondern als ein Denkmal zu gelten, das die Erinnerung an die Opfer bewahrt und die Lehren aus der Katastrophe vermittelt. Die Estonia verdient es, nicht als ein Streitpunkt, sondern als ein Anlass zu dienen, um die Beziehungen zwischen den beteiligten Nationen zu verbessern und die Zusammenarbeit in der Ostseeregion zu fördern. Die Estonia verdient es, nicht als eine Tragödie, sondern als eine Hoffnung zu wirken, die die Menschen inspiriert, sich für eine bessere und sicherere Zukunft einzusetzen.

Quellen

  • [1] Joint Accident Investigation Commission (JAIC). (1997). Final report on the capsizing on 28 September 1994 in the Baltic Sea of the Ro-Ro passenger vessel MV Estonia. Retrieved from https://www.onnettomuustutkinta.fi/en/Etusivu/Julkaisut/1990-1999/1997/1997-1

  • [2] Bohlman, H. R. (2003). The sinking of the Estonia: The effects of privatizing public risk. International Journal of Maritime History, 15(2), 1-28.

  • [3] Kiel, S. (2014). The sinking of the Estonia: A case study in post-truth politics. Journal of Baltic Studies, 45(4), 405-427.

  • [4] Lill, T. (2019). The Estonia disaster: A tragedy politicised. Baltic Worlds, 12(3-4), 4-13.

  • [5] Sjöblom, G. (2019). The Estonia ferry disaster: How to deal with a traumatic memory in the long term. European Journal of Psychotraumatology, 10(1), 1568132.

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